Letzten Sommer fuhr ich an einem wunderbaren Tag im späten August durch Kastilien. Im CD-Spieler lag Bellinis Sonnambula in einer Aufnahme von 1952 mit dem Turiner Radiosinfonieorchester unter Franco Capuana. Ich war auf die Platte durch eine Kundenrezension bei einem amerikanischen Versandhändler aufmerksam geworden. Er empfinde „besondere Zuneigung“ zu dieser Aufnahme, schrieb der kenntnisreich und genau argumentierende Kunde, und weil die Sonnambula zu jener speziellen Gruppe von Opern mit einer schwächlichen Story, aber hinreißender Musik gehört, bestellte ich sie. Damals, auf einer Landstraße Richtung Ávila, hörte ich in der Arie „Prendi, l’anel ti dono“ zum ersten Mal bewusst die hellsamtene, geschmeidige und überirdisch schöne Stimme des Tenors Ferruccio Tagliavini.
Seitdem bemühe ich mich darum, jede Note von ihm kennenzulernen. Dank Internet ist einiges verfügbar, doch gemessen an der musikalischen Qualität dieses lyrischen Tenors bleibt es überraschend wenig. Eine Teilerklärung liegt darin, dass Tagliavini seine beste Zeit in den vierziger und fünfziger Jahren hatte, bevor seine überanstrengte Stimme Zeichen von Erschöpfung zeigte. Auch der Zweite Weltkrieg kam seiner Karriere in die Quere. Später dann in New York, so las ich, verstellte ihm Jussi Björling den Weg, und in Italien war sein zurückhaltender, poetischer Gesang offenbar nicht ganz so stark gefragt wie das Schmelzen und Schluchzen des späten Gigli und die Bravourtaten des jungen Corelli oder des immer noch populären Giuseppe di Stefano.
Aber vielleicht sind Sie ja kein Opernfreund oder keine Opernfreundin? Dann müssen Sie natürlich nicht weiterlesen. Vielleicht machen Sie einen kleinen Test mit Tagliavinis italienisch gesungener Version der Arie „Je crois entendre encore“ aus Bizets Perlenfischern, die ebenfalls jener speziellen Gruppe von Opern mit haarsträubender Story, aber hinreißender Musik angehört. Achten Sie auch auf die kleine Diashow mit Tagliavini-Fotos, die uns der Opernfreund namens musique0308 auf Youtube liefert. Man findet diese Arie zum Beispiel auf einer Kompilation von Cetra-Aufnahmen von 1940 bis 1948, die sie hier abgebildet sehen.
Die Tonqualität ist begrenzt, wie man es auch von einigen der besten Callas-Aufnahmen kennt. Übrigens hatte ich Tagliavini schon vor einigen Jahren als Partner von Maria Callas gehört, doch er hatte in der dritten und letzten Callas-Einspielung von Lucia die Lammermoor bei EMI (1959) nicht mit derselben Intensität auf mich gewirkt: Das Himmlische seiner Stimme war weg, und sechs Jahre später zog er sich vom Opernbetrieb zurück. Sicherlich wissen Sie, dass auch Lucia de Lammermoor jener speziellen Gruppe von Opern mit einer reichlich schrillen Story, aber hinreißender Musik angehört, doch das nur nebenbei.
Oh, noch ein paar Empfehlungen, wenn Sie mehr von Tagliavini hören oder mehr über ihn erfahren wollen. Der deutsche Wikipedia-Eintrag ist nützlich und verblüffend gut geschrieben. Reichhaltige Information und viel Ton- und Bildmaterial über große Stimmen der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gibt es auf dem ausgezeichneten Opernblog von Edmund St. Austell, auch über Ferruccio, wie wir ihn heute einmal nennen dürfen. Wer gern stöbert, findet auf Youtube außerdem Szenen aus Filmen, in denen Ferruccio mitgespielt hat, oder einen wunderbaren Mitschnitt seines Auftritts bei der RAI mit „Una furtiva lagrima“.
Wobei ich nicht verhehlen will, dass die nächstbeste Aufnahme der weiter oben erwähnten Arie aus den Perlenfischern wohl von Alfredo Kraus stammt, dessen Auftritt in Köln 1970 nicht nur der Stimme wegen, sondern auch aufgrund seines empfindsamen Augenspiels ein Genuss ist. Wer wenig Geduld hat, kann bis Minute 1:30 springen, dort beginnt die Arie selbst. Wenn Sie bis zum Ende dabeibleiben, erleben Sie noch den Applaus der jungen Kölnerinnen in ihren very seventies outfits, man könnte Eintritt dafür nehmen. Ich höre jetzt auf. Danke, dass Sie dem Bekenntnis eines aficionados Gehör geschenkt haben. Kommen Sie gut ins neue Jahr. Bleiben Sie gesund! Dann werden wir sicherlich einen Weg finden, im nächsten Dezember den gordo zu gewinnen.
[ Fotos: amazon.uk ]