Neulich, beim Spiel Valencia gegen Schalke 04, habe ich im Fernsehen wieder eines dieser unglaublichen Raúl-Tore gesehen, und nachdem ich nur wenige Stunden vorher die Zeitungsartikel über das Ende der Karriere von Ronaldo (dem Brasilianer) gelesen hatte, fühlte ich mich wie in einer Zeitmaschine: Noch einmal wirbelte sie mich herum und katapultierte mich neun Jahre in die Vergangenheit zurück, als Ronaldo zu Real Madrid kam und auf sonderbare Weise den endlosen Abschied von Raúl einleitete, den längsten Abschied, den ich je bei einem Spieler beobachten musste: Aus einem genialen, unberechenbaren, unbeugsamen jungen Stürmer wurde plötzlich ein älterer, langsamer Spieler, der seiner eigenen Legende hinterherlief und bei dem man sich fragte, ob er seine besten Tage nicht schon hinter sich habe.
Und das hatte er. Allerdings war Raúl nicht bereit aufzugeben, und so bestand unser Schicksal darin, diesem Kampf zuzuschauen: Spiel um Spiel, Jahr um Jahr. Raúls Größe lag natürlich darin, dass dieser Abschiedskampf viel länger dauerte, als er bei jedem anderen Spieler gedauert hätte, aber das nimmt nichts davon weg, dass es sich um ein breit ausgewalztes Ende handelte. Einzelne Spiele hindurch konnte er noch glänzen, hin und wieder fielen seine unnachahmlichen Tore, doch Torschützenkönig der Liga wurde er nicht mehr, und auch in der eigenen Mannschaft schaffte er es nicht mehr, der Beste zu sein, solange Ronaldo bei Real Madrid stürmte. Diesem Ronaldo habe ich immer ein wenig nachgetragen, dass er zum verfrühten Niedergang von Raúl beigetragen hat, ganz abgesehen davon, dass seine Spielweise nicht zu Real Madrid passte. Doch zu wem hätte sie schon gepasst? Ronaldo war immer für sich selbst da, nicht für die Mannschaft, man sah es jeder seiner Bewegungen an, er dachte an sein eigenes Torkonto, und sicherlich hat er die Statistiken der Vereine, in denen er je gespielt hat, schon vergessen, während ihm seine persönliche Trefferbilanz wohl immer klar vor Augen steht.
Wenige Tage vor dem Raúl-Tor hat der spanische König dem Trainer der spanischen Fußballnationalmannschaft den Adelstitel zuerkannt, und man weiß nicht, was an der Nachricht schöner war: dass Juan Carlos I. erstmals einen Sportler in den Adelsstand erhoben hat – oder dass dieser Sportler Vicente del Bosque heißt. Vielleicht ergibt das Erste nur Sinn mit dem Zweiten. Denn der Trainer der selección (die ohne Raúl erst Europa-, dann Weltmeister wurde) verkörpert genau die Werte, die seine Männer im vergangenen Juli in Südafrika zum Titel geführt haben: Arbeit, Inspiration, Demut, Mannschaftsgeist. Vicente del Bosque, das heißt auf deutsch Vinzenz vom Walde. Gibt es einen ländlicheren, bodenständigeren Namen? Nach der Verleihung des Titels eines Markgrafen (marqués) darf sich der Sechzigjährige jetzt Marqués de Del Bosque nennen, Markgraf vom vom Walde. Das wird er aber nicht tun, auch nicht zum Spaß. Er werde, sagte der Geehrte, nicht seine Visitenkarte ändern lassen (schon deswegen nicht, weil er keine hat), man dürfe ihn weiterhin duzen und selbstverständlich „Vicente“ nennen, Respekt sei in jeder Anrede möglich.
Nicht, dass er selbst immer respektvoll behandelt worden wäre. Im Jahr 2003 zum Beispiel, nachdem er als Trainer von Real Madrid in kaum vier Jahren sieben Titel geholt hatte, darunter zweimal die Champions League und zweimal die spanische Meisterschaft, fand der Vereinspräsident Florentino Pérez plötzlich, Real Madrid solle von oben bis unten moderner werden, das Image und so, auch der Trainer, und in den Zeitungen stand sogar, Del Bosques kräftiger Schnurrbart sei irgendwie bäurisch und entspreche nicht dem neuen Modernitätslook. Ich erzähle nur, was man sich damals erzählte. Real Madrids erfolgreichster Coach in Jahrzehnten musste also gehen, und seitdem hat die Mannschaft unter diesem Präsidenten keinen einzigen Titel mehr gewonnen, nicht von 2003 bis 2006 und auch noch nicht zwischen 2009 und 2011. Dafür wurden reihenweise Trainer verschlissen, kleine, große, mittlere. Übrigens auch mehrere Schnurrbartträger, einer mit einem schwarzen, ein anderer mit einem blonden Schnurrbart. Nur ein Schnurrbart wie der von Don Vicente war nicht mehr dabei. Inzwischen sind wir bei Nummer zehn. Unser gegenwärtiger Trainer trägt zwar äußerlich keinen Schnurrbart, aber einen inneren, und er kommt mir etwas lang vor.
Vicente del Bosque übrigens lief damals, nach seinem Rauswurf, nicht herum und beklagte sich. Er war gekommen, er konnte auch wieder gehen. Dieser Mann hat sich nie in den Vordergrund gespielt. Man kann sagen: Der innere Adel war schon da, lange bevor der äußere dazukam. Von diesem knorrigen kastilischen Urgewächs meinte Mario Vargas Llosa, der am selben Tag den Titel des Markgrafen verliehen bekam, es sei eine Ehre, zusammen mit Vicente del Bosque ausgezeichnet zu werden. Hübsch war, was sonst noch von der Ehrung durchsickerte. Etwa, dass Del Bosques Frau, die Markgräfin, sich über die Menge an Preisen und Ehrungen beklagt habe, inzwischen seien es dreiunddreißig in den letzten sechs Monaten, und die Wohnung werde allmählich eng. Man muss nämlich wissen, Del Bosque wohnt weder fürstlich noch markgräflich. Er ist ein einfacher Mann aus Salamanca.
All das – der Schnurrbart, Kastilien, Salamanca – ging mir durch den Kopf, als ich letzte Woche wieder die Bilder des Putsches vor dreißig Jahren sah. Die Schnurrbärte der Verschwörer! Zum Beispiel der zackige Schnurrbart des pistolenschwingenden Oberstleutnants Tejero. Oder der gewissermaßen vorschriftsmäßig autoritätseinflößende Schnurrbart des Generals Armada. Beide tragen die Dinger noch heute, als wollten sie zum Ausdruck bringen, dass sie nichts bereuen und nun einmal sind, was sie sind. Und da dachte ich, es gibt gute Schnurrbärte und schlechte Schnurrbärte. Lustig, nicht? Die einen hängen an guten Menschen, die anderen an schlechten. Sie mögen sich ähneln, diese Schnurrbarttypen, haarig sind sie ja beide, vielleicht sogar hart, borstig und all das, und ganz sicher pieksen sie beim Küssen, eine Vorstellung, bei der ich mit Ihrem Einverständnis nicht länger verweile.
Aber eines wollte ich noch sagen. Vicente del Bosque oder Vinzenz vom Walde, der neue Markgraf, hat etwas Entscheidendes für die Schnurrbarthaftigkeit seines Landes geleistet. Er hat die traditionelle spanisch-männliche Gesichtsvegetation umgewertet, einfach nur, indem er der ist, der er ist, ein friedlicher, aufrechter Mann mit einer Aura irgendwo zwischen Kneipenwirt und Seelöwe. Indem er nicht als General auftritt, keine Waffe schwingt, keine Kommandos schmettert und gegen niemanden putscht. Es macht mich stolz, dass er erst Spieler und zwischen 1999 und 2003 auch Trainer unserer Mannschaft war, also auch der Trainer von Raúl, dem unvergessenen Helden von gestern, der immer noch hungrig auf Tore ist und sie eben nur nicht nicht mehr bei dem Markgrafen de Del Bosque schießt, sondern auf Schalke.
[ Fotos : DPA, AFP ]