In den letzten Tagen hat es so viel geregnet, dass ich Ihnen heute einmal etwas Schönes, vor allem, Trockenes zeigen will. Da meine fotografischen Qualitäten begrenzt sind, werden Sie mir sofort glauben: Dies ist nicht mein Foto. Ich darf aber das Einverständnis des Rechteinhabers voraussetzen und hiermit ankündigen, dass ich erst in einigen Tagen nähere Auskunft zu dem Bild geben werde. Ich möchte es spannend machen, wie man so sagt, und Sie erst einmal hinschauen lassen. In Ruhe, ohne Zwänge, gleichsam meditativ.
Warum dieses Bild und kein anderes? Aus zwei Gründen. Erstens, weil es mir gefällt. Zweitens, weil es ein tröstendes Gegengewicht zu dem Thema darstellt, von dem ich jetzt in aller Knappheit sprechen will, denn ich bin müde und muss noch Reisevorbereitungen treffen, doch davon gleich.
Mein Thema. Es dreht sich um den Überdruss des Kritikers an seinem Gegenstand. Me explico. Irgendwann über die lange Dauer ihres Amtes, nach fünfzehn, vielleicht nach zwanzig oder auch erst nach siebenundzwanzig Jahren, werden manche Kritiker ihrer Aufgabe müde, gleichgültig, ob es sich um Literatur-, Theater- oder Filmkritiker handelt. Nicht alle! Natürlich nicht. Aber doch manche, wie ich sagte. Und von diesen manchen gibt es einige, die es entweder nicht bemerkt haben oder nicht wahrhaben wollen, so dass sie weiterschreiben, als wäre nichts geschehen: sich vor einem Werk (Buch, Bühne, Kinoleinwand, sinfonischer Saal) aufbauen und es für uns, zu unserer Kenntnis und Unterhaltung, rezensieren. Oh, manche von ihnen können auch nicht aufhören, sie können es sich finanziell nicht erlauben, das dürfte sogar die Mehrheit sein, sie müssen weitermachen auf Gedeih und Verderb, und das tun sie, mit aller Routine, die ihnen zu Gebote steht, den geläufigen tricks of the trade und den zuverlässigen Instinkten, die sie im Lauf der Jahrzehnte ausgebildet haben.
Nur eines ist ihnen abhanden gekommen: die Neugierde, die Frische. Bekanntlich ist Neugierde durch nichts zu ersetzen. Wer noch hungrig ist und etwas Neues entdecken will, wird dieses Neue auch in niedrigeren Konzentrationen aufspüren; wer müde ist, kann machen, was er will. Er findet nichts mehr. Es wäre im zweiten Fall besser und ehrlicher – leider nicht immer möglich, aber nun! -, einen kleinen Abschiedsartikel zu verfassen, der überschrieben wäre: „Warum ich aufhöre“. Oder so ähnlich. Darin müsste stehen, dass der Kritiker (oder die Kritikerin, auch Frauen werden müde) seiner (ihrer) Aufgabe aufgrund von Reizüberflutung, Lebenserschöpfung, Zeitmangel und/oder dem Erlahmen der kritischen Fähigkeiten nicht mehr nachkommen kann. Ein paar nostalgische Bilder, eine Reminiszenz, ein Dank ans Publikum und die lieben Kolleg(inn)en. Und arrividerci!
Diese nicht besonders schönen Gedanken hatte ich vor ein paar Tagen wieder, als ich den chat von Carlos Boyero las, dem Filmkritiker von El País. Ich empfand nämlich – vielleicht zum fünften oder sechsten Mal -, dass Carlos Boyero aufhören sollte. Er hat die Neugierde verloren. Er füllt zwei Drittel seiner Rezension mit einer Vorrede, die uns darauf vorbereiten soll, dass er sich den Film nicht zu Ende angesehen hat, wofür er um unser Verständnis bittet. Was ich allerdings nur Leuten wie mir entgegenbringe, nicht einem professionellen Filmkritiker. Außerdem ist er auf hinderliche Weise eitel. Me explico. In manchen Berufen ist Eitelkeit nicht nur nicht hinderlich, sondern geradezu Voraussetzung für gute Arbeit. Der Beruf des Filmkritikers, scheint mir, gehört nicht dazu. Boyero ist nicht nur eitel, er schreibt auch eitel. Mehr, er gefällt sich darin, Regisseure, die er nicht mag, in seinen Kritiken zu beleidigen. Und je mehr und heftiger er sie beleidigt, desto eher glaubt er sich das Recht zu erwerben, ihre Filme nur teilweise sehen zu müssen, und erteilt sich gleichsam aus berechtigtem Kritikerüberdruss die Genehmigung, nach einer ihn ermüdenden Eröffnungssequenz oder einer als träge empfundenen ersten halben Stunde einfach aus dem Kino zu gehen. Inzwischen schreibt er über dieses Hinausgehen ganz ungehemmt. Das wäre ungefähr so, als würde ein Literaturkritiker ein Buch nur halb lesen und dann eine Rezension darüber verfassen.
Das erinnert mich an einen hübschen Dialog in William Gaddis‘ Roman The Recognitions (Die Fälschung der Welt):
– You reading this book?, fragt einer den anderen.
– No, I’m just reviewing it.
Was uns verständlicher macht, warum der angelsächsische Sprachraum zwischen book reviewer und literary critic deutlich unterscheidet.
Natürlich habe ich nichts gegen Carlos Boyero persönlich. Ich sage das lieber dazu. Wie gern würde ich eines Tages seinen Abschiedsartikel lesen! In dem chat, von dem ich oben sprach, fragt ihn Leser Bob um 13:53 Uhr:
„Oft fällst du Urteile wie: ‚Dies oder jenes war wirklich noch groß, das wird es nicht nochmal geben‘, während du über neuere Filme, Schauspieler oder Soundtracks eher lustlos sprichst. Glaubst du nicht, dass du durch übertriebene Nostalgie einiges verpasst?“
Und die ehrliche Antwort von Carlos Boyero:
„Wahrscheinlich. Aber was ich habe, reicht mir. Ich brauche keine neuen Empfindungen. Die alten sind unersetzlich.“
Oh, das war er ja schon! Sein Abschiedsartikel! Den hatte ich ganz übersehen. Gut. Jetzt bin ich sicher, er wird bald aufhören. Nach solchen Sätzen kann er doch schlecht weitermachen, oder?
Meine Reisevorbereitungen! Ich muss dringend weg. Die nächste Mitteilung in diesem Blog wird von einem ferneren Land handeln. No me explico. Sie werden ja sehen. Ich fahre dorthin, wo es wärmer ist. Haben Sie Geduld! Wenn über den Tag weniger freigeschaltet wird, dann erlebe ich im Auftrag meiner Leser(innen) neue Abenteuer. Ich brauche keine neuen Empfindungen? Die alten sind unersetzlich? Nicht mit Sanchos Esel!