Sanchos Esel

Mail aus Havanna: Warten im Oldsmobile

Ankunft in Havanna am Dienstag um neun Uhr abends, in der Luft bewegt sich etwas, aber die Leute ächzen über die frühe Hitze, die im März nichts zu suchen hat. Ein Spanier aus Gran Canaria saß im Flugzeug neben mir, er hat Freunde in Kuba, dies ist sein erster Besuch. Während des Fluges liest er brav ein Buch über den politischen Alltag der Insel.

Wieder der Eindruck früherer Jahre: die karg besiedelte Landschaft auf dem Weg in die Stadt, die trüben Lichter, die alles in eine schummerige Atmosphäre tauchen, der Qualm aus uralten Motoren, am Straßenrand schwatzende, gehende, wartende Menschen. Mit spanischen Augen sieht das Ganze nicht mehr so merkwürdig aus: Die Leute sind bei dieser Hitze im Freien, statt im Haus zu hocken, etwas anderes wäre nicht vernünftig. Aber ein später Gang durch die Altstadt bestätigt, dass Viele einfach nichts Besseres zu tun haben, als zu warten. „Heute ist Dienstag, amigo“, sagt einer der in der Nähe des Kapitols Herumlungernden. Als hätte ich das nicht selbst gesehen. Die Bars, die mich bei früheren Besuchen noch begrüßt haben, haben schon weit vor Mitternacht die Rollläden heruntergelassen. Nur in der Bar Floridita ist noch Licht. Meine vorsichtige Schätzung ergibt, dass sich im Floridita seit Hemingways Tod, vor einem halben Jahrhundert, zwischen drei und zehn Millionen Touristen nach ihm umgeschaut haben. Er ist weg, Leute! Glaubt es mir! Nur ihr seid noch da. Das ist eine Erkenntnis, die nur wenige Besucher mit nach Hause nehmen werden. Dass eine Bar von einem Trinker und Schreiber nichts bewahrt außer ein paar Fotos und dem Geschwätz der Nachfolgenden.

Etwas ist anders als beim letzten Mal. Der Dollar wurde gegenüber dem kubanischen Peso abgewertet und ist kein günstiges Zahlungsmittel mehr, die Geldwechsler nehmen fette Kommissionen, am besten fährt man mit Euro, die man gleich in Pesos umtauscht. Robin, der junge Taxifahrer, erzählt mir, die Zeiten seien nicht gut, aber er meint nicht Kuba allgemein, denn das kennt er nicht anders, sondern diese Märztage: Es gebe kaum Touristen.
„Aber jetzt bin ich doch da“, sage ich.
„Du bist meine erste Fahrt heute. Davor habe ich sechseinhalb Stunden gestanden.“
Robin fährt ein Oldsmobile von 1949, und ich muss sagen, es fährt sich gut darin. Hier rast niemand, manche stinken nur mit ihren Abgasen, und wenn man in der Dunkelheit keinen Fußgänger erwischt, sind Touren in Havanna ausgesprochen ruhig.
„Und der Motor?“, frage ich.
„Hyundai“, sagt Robin. „Keine zehn Jahre alt.“ Ich sage ihm, dass ich für den Rückweg zum Flughafen auf ihn zähle.

Diesmal werde ich keine Zeit haben, um die Hemingway-Finca zu besuchen, es ist eine lange Busfahrt dort hinaus, aber ich stelle einmal eine Reportage hierher, die vor zehn Jahren in der Zeitung erschienen ist, mit Bildern von Barbara Klemm. Vielleicht haben Sie Lust, etwas darüber zu erfahren. Die Zeitangaben sind dem aktuellen Stand angepasst, aber das andere habe ich gelassen, wie es war. Auch die Bilder von Barbara Klemm waren dreißig Jahre alt, als die Reportage erschien, in solchen Fällen darf man den Fotografen vertrauen. Zehn Jahre, dreißig Jahre? Ein Nichts! Das meiste bleibt gleich, es bekommt nur ein paar Kratzer mehr ab, hier und da fällt jemandem ein Stein auf den Kopf oder sackt ein Gebäude in sich zusammen, hier und da hebt jemand den Stein wieder auf oder baut etwas neu, und gelegentlich packt ein Freund oder Onkel oder Cousin des Taxifahrers einen Hyundai-Motor in ein Oldsmobile, das so alt ist wie die Währungsreform der frühen Bundesrepublik.

Also. Vor ziemlich genau siebzig Jahren kaufte Ernest Hemingway in der Ortschaft San Francisco de Paula, fünfzehn Kilometer außerhalb von Havanna, die Finca La Vigía, ein schönes, auf einem Hügel gelegenes Anwesen im Kolonialstil. Zu den acht Räumen ließ er noch einen Aussichtsturm und kleinere Gebäude hinzubauen, etwa ein eigenes Haus für seine Kinder und zwei weiße Würfel unten am Swimmingpool, in denen er einen Teil seiner neuntausend Bücher umfassenden Bibliothek unterbrachte. Der Pool, in dem Ava Gardner nackt gebadet haben soll, bietet ein seltsames Bild. Gleich neben dem Beckenrand liegen Hemingways vier Hunde beerdigt, mit Grabstein und Namen: Negrita, Linda, Black und Nerón. Dahinter ist in einem monströsen Betonbau mit Sichtfenstern El Pilar aufgedockt, Hemingways stolze Elf-Meter-Yacht, mit der er nicht nur zum Hochseefischen hinausfuhr, sondern 1942 und 1943 auch deutsche U-Boote aufzuspüren versuchte. FBI-Chef Hoover höchstselbst mußte dem amerikanischen Botschafter in Havanna Weisung geben, damit der Amateurspion, der sich „Agent 008“ nannte, von seinem klandestinen Treiben Abstand nahm.

Die Episode ist typisch für den späteren Hemingway. Nichts faszinierte ihn so sehr wie Krieg, echtes Drama, reale Gefahr. Praller Wirklichkeitsstoff beherrscht auch das Hemingway-Bild, das der kubanische Staat den Touristen bietet. Jedes Jahr im Mai findet an der Marina Hemingway der Ernest-Hemingway-Wettbewerb im Hochseefischen statt, den der Schriftsteller 1950 ins Leben rief und den zehn Jahre später ein junger Mann namens Fidel Castro gewann, wie die Fotos an den Wänden von Hemingways Lieblingsbar Floridita in Havanna belegen. Einen Steinwurf von dieser Bar entfernt kann man sich für ein paar Pesos das Zimmer 511 im Hotel Ambos Mundos zeigen lassen, in dem er mit der Niederschrift von Wem die Stunde schlägt begann. Und zehn Kilometer östlich von Havanna, in dem kleinen Dorf Cojímar, wo die Yacht El Pilar lag, lebte bis ins biblische Alter der Fischer Gregorio, angeblich das Vorbild für den alten Santiago in der Novelle Der alte Mann und das Meer, die Hemingway 1954 den Nobelpreis eintrug. Für zehn Dollar erzählte Gregorio jedem, der es hören wollte, was seine ferne Erinnerung an Papa hergab.

Vermutlich ist die Finca La Vigía, die der kubanische Staat 1962 als Hemingway-Museum der Öffentlichkeit zugänglich machte, der einzige Ort in Havanna und Umgebung, der mehr von dem Schriftsteller bewahrt als das Image des trinkfesten tough guy. Das meiste darin ist noch so, wie es war, als der Sechzigjährige die Insel verließ. Damit keine Gegenstände verschwinden, dürfen Besucher nur von außen durch die Fenster hineinschauen. Als ich an einem Dienstag, dem Ruhetag, nach San Francisco de Paula kam, hatte ich Glück: Der Wärter gab den Weg aufs Gelände frei, der Verwalter ließ sich in ein Gespräch verwickeln, und bald darauf tauchte auch Raúl Chagoyén auf, der Konservator des Museums, und bot mir eine private Führung durch die Innenräume an. Diese zwei Stunden, untermalt von Glenn-Miller-Musik aus Hemingways altem Plattenspieler, haben einen traurigen Eindruck hinterlassen.

Denn die Räume, das Mobiliar und der angesammelte Nippes sind nicht nur vorbildlich konserviert, was paradoxerweise melancholischer stimmt als Verschleiß und Verfall; das Ganze wirkt wie die Inszenierung eines locus amoenus der Kreativität, das Schriftstellerparadies schlechthin. Bücher, wohin man schaut, mit bildungsbürgerlichem Ordnungssinn ausgestellt; doch der Hemingway jener Jahre war ein mäßig begeisterter Leser. Bach, Mozart und Schubert säuberlich aufgereiht im Plattenschrank; doch der Sessel hat einen noch näheren Nachbarn, nämlich die Hausbar. Ein Griff mit der Linken, und das Glas war wieder gefüllt.

Während er von Hemingways Gewohnheiten erzählt, hat der Konservator weiße Handschuhe übergestreift. Die pittoreske Staubschicht auf den Gin- und Campari-Flaschen ist der einzige Schmutz, den Raúl in der Finca duldet. Es gibt hier keinen Raum ohne tote Tiere. Jagd, Kampf, tapfere Selbstbehauptung (oder aber ehrenvoller Untergang) waren unverrückbarer Teil von Hemingways Männlichkeitsmythologie. Die Bücher in den Regalen sprechen davon, Werke über Krieg und politische Konflikte, über Großwildjagd, Angeln oder die Kunst des Hahnenkampfs. Kopf und Fell eines Gepards erzählen vom Ruhm dessen, der ihn tötete. Ein fetter Frosch, eine Eidechse, eine weiße Fledermaus ruhen in Formalin – die Eidechse hatte es tollkühn mit einer von Hemingways fünfzig Katzen aufgenommen und verloren. Selbst der Griff eines Korkenziehers ist nicht unschuldig; er besteht aus dem Reißzahn eines Wildschweins.

Gegen die Wand gelehnt (nie gehängt): Stierkampfbilder des spanischen Malers Roberto Domingo, nach denen auch Ankündigungsplakate hergestellt wurden. Aber am handgreiflichsten wirken die ausgestopften Antilopen-, Gazellen- und Rothirschköpfe, die sich auf das gesamte Haus verteilen; allein im Eßzimmer hängen sieben der glasig dreinblickenden Burschen. Für das enorme Geweih eines selbstgeschossenen Kudus, einer afrikanischen Antilopenart, interessierte sich Mussolini so brennend, dass er Hemingway einen Blankoscheck zukommen ließ. Der Schriftsteller schickte ihn zurück mit der Notiz, er jage nicht, um zu leben, sondern lebe, um zu jagen.

„Nase nach vorn, festgeschlossenes Maul, bluttriefend, den massigen Kopf vorgestreckt, . . . die kleinen Schweinsaugen blutunterlaufen“: so beschreibt Hemingway in einer seiner besten Erzählungen den Büffel, der auf Francis Macomber zustürmt. Der riesige Schädel, der die Geschichte inspirierte, hängt im Arbeitszimmer und glotzt auf einen der zahlreichen Schreibtische herab. Der Schreibtisch war nicht zum Arbeiten da; Patronen stehen darauf wie Zinnsoldaten. Hakenkreuzembleme, eine Gürtelschnalle („Gott mit uns“), Uniformaufnäher und weitere Kriegssouvenirs künden vom männlichsten Handwerk von allen. Unter der Glasplatte stecken Visitenkarten und Fotos, darunter das Bild von Marlene Dietrich, ein Geschenk der Künstlerin; Hemingway hatte drei ihrer Platten, natürlich auch American Songs in German for the O.S.S..

Nein, gearbeitet wurde an diesem Tisch nicht, auch nicht an dem großzügigen, leicht gebogenen Schreibtisch in der Bibliothek, der der Korrespondenz vorbehalten war. In Griffnähe liegt der Stempel, mit dem er lästige Leute abwimmelte: „I never write letters – Ernest Hemingway.“ Geschichten und Romane schrieb er wegen seiner Kniebeschwerden im Stehen, von frühmorgens bis mittags, dicht vor der Nase die weiße Wand des Arbeitszimmers. Die Royal-Schreibmaschine stand und steht auf dem Bücherregal, und zur Erlangung der richtigen Höhe diente ein wuchtiger Band des Who’s who von 1954/55, der heute noch da liegt. Wurde Hemingway müde, ließ er sich aufs Ruhebett sinken.

Was seine körperliche Verfassung angeht, beherbergt das Badezimmer ein intimes Manuskript: Dort auf der weißen Wand, direkt neben der Waage, notierte Hemingway täglich in winziger Schrift sein Gewicht. Man liest: 1955 wog er 240 Pfund, im Juli 1960 nur noch 190 Pfund. Einmal steht neben dem Gewicht der Kommentar: „mit Pantoffeln und Schlafanzug“. Ein anderes Mal fügt er wie zur Entschuldigung hinzu: „17 Tage ohne Diät – 5 getrunken.“ Ernest Hemingway bewohnte die Finca zwanzig Jahre lang, bis kurz nach der kubanischen Revolution 1959. Abgesehen von Der alte Mann und das Meer ist die Ernte dieser Zeit karg. Oft war er monatelang in der Welt unterwegs, in Kenia, Frankreich oder Spanien. Als er die Karibik verließ, weil er befürchtete, nach dem Sturz des Batista-Regimes zur persona non grata zu werden, blieb ihm nicht mehr viel: Alkohol, Krankheit und Alter hatten seine Kreativität untergraben. Nach mehreren missglückten Selbstmordversuchen nahm er sich 1961 in Ketchum (Idaho) das Leben.

Raúl, der Konservator, kann dem Werk Hemingways nicht viel abgewinnen. Am Ende des Rundgangs zeigt er mir das Buch, das er gerade liest. Es ist Hermann Hesses Weg nach innen. Als ich ihn ein paar Jahre später wiedertreffe (den Job im Museum hat er in der Zwischenzeit verloren), bringe ich ihm aus Spanien einen Hesse-Roman mit. Er freut sich darüber. Dann reiche ich ihm noch einen Band mit Erzählungen von Kafka: Etwas für die Ewigkeit, weil in Kuba die Zeit nicht vergehen will.

                                           [ Fotos : Reuters, DPA ]

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