Sanchos Esel

Sanchos Esel

Spät essen, laut reden, wenig schlafen, kein Fahrrad haben, die Mülltrennung vergessen, dem berühmtesten Fußballverein der Welt zugucken, bei Rot

Wo?

| 17 Lesermeinungen

Mit welchen Themen beschäftigen sich die jungen kubanischen Künstler? Was empfinden sie als notwendig, vordringlich und sagenswert? Immer vorausgesetzt, sie sehen sich nicht als Söldner eines wirtschaftlich bankrotten und politisch intoleranten Staates.

Mit welchen Themen beschäftigen sich die jungen kubanischen Künstler? Was empfinden sie als notwendig, vordringlich und sagenswert? Immer vorausgesetzt, sie sehen sich nicht als Söldner eines wirtschaftlich bankrotten und politisch intoleranten Staates. Nachdem ich bei den Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm über Havanna den siebenunddreißigjährigen Fotografen Alejandro González kennengelernt hatte, besuchte ich ihn zwei Tage später zu einem längeren Gespräch im Stadtteil Vedado. Alejandro hat sich der Fotografie als Autodidakt genähert wie so viele seiner Berufskollegen, mit Hilfe der sowjetischen Kamera, die der Familie für Schnappschüsse diente. Ein Fotostudium, so erzählt er mir, gebe es in Kuba nicht, und die Knappheit des Materials zwinge jeden, der auf eigene Faust etwas ausdrücken wolle, zu ausgeklügelten Manövern.

Mit achtzehn wollte Alejandro Journalismus studieren, doch ihn und seine Altersgenossen traf nach dem Fall der Mauer die offiziell ausgerufene „Spezialperiode in Friedenszeiten“, als Kuba nach der Streichung der sowjetischen Subventionen sehen musste, wie es wirtschaftlich überleben sollte. Im tropisch heißen Sommer wurde für acht Stunden am Stück der Strom abgeschaltet, um Geld zu sparen, die Menschen dampften im eigenen Saft und legten sich auf den Fußboden, um ein Minimum an Kühlung zu haben. Ohne Klimaanlage ist die Karibik im Sommer kaum auszuhalten. Jeder erinnert sich daran, jeder kann davon erzählen. „Spezialperiode“, das Wort trifft es nicht schlecht.

Genau in dieser Zeit hing Alejandro in der Luft und wusste nicht, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Im Januar 1994 erhielt er eine Stelle als Tontechniker in der Casa de las Américas, dem wichtigen Kulturzentrum in Havanna, und weil bei einer Gelegenheit der übliche Fotograf ausfiel, übernahm er dessen Arbeit und blieb dabei. Er sah sogar den legendären Korda, den Fotografen der Revolution, dessen Che-Guevara-Bilder von der Ikonographie der Castro-Jahre nicht mehr wegzudenken sind, ja sie mit einer Magie und Verführungskraft ausgestattet haben, wie sie die Wirklichkeit jener Jahre schwerlich geboten haben dürfte.
Bild zu: Wo? 
Heute arbeitet Alejandro González freiberuflich für ausländische Zeitschriften und Agenturen oder als Setfotograf (wie bei der Gelegenheit, als ich ihn kennenlernte). Für kubanische Zeitungen arbeitet er nicht. Ihm gefällt weder die technische Qualität, die diese Publikationen erlauben, noch der instrumentelle Gebrauch, der darin von der Fotografie gemacht wird. Es ist ja die Illustration des Immergleichen, dessen, was der Staat zeigen will, und dessen, was die Menschen glauben sollen. Seit 1998 – dem Jahr, als er seinen Job in der Casa de las Américas aufgab – hat er neben dem Broterwerb an eigenen Fotoserien gearbeitet, die als sein eigentliches Statement gelten dürfen. Es sind fotografische Essays, persönliche Erkundungen, ja Radiografien des gegenwärtigen Kuba aus bestimmten Blickwinkeln. 

Neulich erzählte ich an dieser Stelle vom Alter der Gegenstände, dem schieren Verschleiß und Verfall, denen man in Havanna überall begegnet. Die Tourismusindustrie und die opulenten Havanna-Bildbände romantisieren diesen Niedergang, so wie Korda die Revolution romantisiert hat, sie ästhetisieren das Kaputte und umgeben es mit einem Schimmer von Nostalgie. Alejandro González tut genau das Gegenteil. In seiner frühen Serie ¿Dónde? (Wo?) aus dem Jahr 2000 lässt er in Schwarz-Weiß die Ansichten eines einzigen Gebäudes in Havanna an uns vorüberziehen – seine menschenferne, manchmal schlampige, oft gedankenlose Architektur, seine verschlissenen Materialien und die objektive Sinnlosigkeit vieler Details. Natürlich ist das eine Aussage über die Menschen, die dergleichen ersonnen haben. Jene, die es erleiden, kommen nicht ins Bild.
   Bild zu: Wo?
Man denkt sich Havanna als einen Ort voller Menschen, und natürlich ist es das. Das Auge des Fotografen ruht hier jedoch auf dem verlassenen Ort, dann nämlich, wenn er unverhüllt von den Absichten der Planer kündet. Hier, sagt Alejandro zu mir, als wir gemeinsam das oben stehende Foto betrachten: Was soll das denn für ein Gang sein? Mit einem Durchblick wie Schießscharten?
Bild zu: Wo?
Oder das hier? Alejandro sagt, er habe diese Struktur außerhalb des Hauses in all ihrer Hässlichkeit fotografiert, ohne überhaupt zu wissen, wozu sie diene. Vielleicht weiß ja eine Leserin Rat.
Bild zu: Wo?
Und wer könnte dieses Foto sehen, ohne an die Menschen zu denken, die auf dieser Treppe hinauf und hinab gegangen sind? Bild zu: Wo?
Oder die Briefe, die hier nicht angekommen sind?

Bild zu: Wo?

Oder die Blicke, die hier nach oben gewandert und aus Trübsinn, Überdruss oder Gleichgültigkeit wieder fortgestrebt sind?

Bild zu: Wo?

Es gibt etwas Rohes, Hässliches in der gegenständlichen Welt, was vor allem als fotografisches Objekt Sinn bekommt. Man muss es von sich fernhalten: Es anschauen, nicht darin leben. 

Bild zu: Wo?

So, entleert von allen Bewohnern, vielleicht schon aufgegeben und verlassen, erzählen diese Räume noch einmal vom Geist der Erbauer. Der neue, revolutionäre Mensch, den sie im Sinn hatten, muss schon damals alt und blind gewesen sein.

                                                                   [ Fotos : Alejandro González, ¿Donde? ]


17 Lesermeinungen

  1. Dulcinea sagt:

    Von weitem schon sehe ich den...
    Von weitem schon sehe ich den Mann, wie er die halbhohe Mauer fotografiert. Unsere Mauer. Als er meine Schritte hört, dreht er sich mit der Kamera in der Hand zu mir herum und sagt: »Oye, weißt du vielleicht, was das hier war?«
    Er weist mit der linken Hand auf das kleine Areal vor uns.
    Gleich kommt Alba mit ihrem Päckchen, denke ich, und mein Herz setzt einmal aus. Aber ich sage: »Ni idea, compañero.«
    »Alejandro«, sagt der Fotograf.
    »Bruno«, sage ich.
    »Fenómeno«, sagt der Fotograf.
    Wir geben uns die Hand.
    »Ich habe das Monstrum da fotografiert«, sagt Alejandro und weist auf unser verlassenes Hochhaus. »Die Fassade, die Gänge, Treppen, Aufzüge. Was für ein Ort. Schaurig.«
    »Alle sind weggezogen«, sage ich.
    »Hier«, sagt Alejandro und zeigt mir ein Foto auf dem Display seiner Digitalkamera, »was soll das denn für ein Gang sein? Mit einem Durchblick wie Schießscharten?«
    Alba, denke ich. Alba in ihrem zitronengelben Kleid, und der Wind in ihrem Haar. Jeden Abend habe ich hier unten auf Alba gewartet. Pünktlich um halb zehn setzte ich mich auf das halbhohe Mäuerchen. Wenig später kam sie. Jeden Abend trug sie ihr Päckchen, ein in die »Granma« vom Vortag eingewickeltes Häufchen Müll, herunter. Damit trat sie an mir vorbei auf den Platz für die Mülltonnen, als sähe sie mich nicht, warf ihr Päckchen fort, rieb sich die Hände, trat wieder heraus und setzte sich neben mich.
    »Bruno«, sagte sie dann.
    »Alba«, sagte ich. »Gib mir einen Kuß.«
    »Heute nicht«, sagte Alba.
    Das war unser Ritual. Ich küßte sie natürlich trotzdem. Alba war meine große Liebe, und ich war mir nie ganz sicher, ob ich auch ihre große Liebe war. Ich hatte jeden Abend Herzklopfen.
    »Ich möchte weg von hier, Bruno«, sagte sie oft.
    »Weg vom Müll?«, fragte ich sie dann.
    »Weg von diesem Haus«, antwortete Alba, ihre Augen leuchteten. »Weg aus Havanna, weg aus … Kuba!«
    Wir schütteten uns aus vor Lachen. Weg aus Kuba!
    Je älter wir wurden, desto länger wurden unsere Küsse auf der Mauer des Müllplatzes. Manchmal durfte ich Albas Kleid ein wenig aufknöpfen. Es war sehr warm im Sommer, und nur die Ratten kamen uns besuchen.
    Eines Abends sagte ich: »Alba, ich werde fortgehen. Und du kommst mit.«
    Sie schaute mich an, und Tränen stiegen in ihre Augen.
    »Wohin gehst du?«, fragte sie mich.
    »Nach Europa«, sagte ich. Ich zeigte ihr den Brief. Ich hatte einen Ausbildungsplatz in der DDR erhalten.
    »Da paßt du hin mit Deinem komischen Namen«, lachte Alba, und die Tränen liefen ihr über die Wangen. „Zu den Deutschen.“
    »Karl-Marx-Stadt«, sagte ich.
    Wir schauten auf den Brief, wo der Name dieser fremden Stadt geschrieben stand. Sie buchstabierte ihn. Dann sagte sie: »Geh nicht.«
    Ich ging aber doch. Alba habe ich niemals wiedergesehen.
    Alejandro setzt sich mit seiner Kamera auf die Mauer, ich setze mich neben ihn.
    »Wo sind wohl all diese Menschen, die hier einmal gewohnt haben?«, fragt er. »¿Donde? Weißt du es vielleicht, Bruno?«
    »Sie sind weg«, sage ich, »und wir finden keine Spuren.«

  2. Dulcinea sagt:

    PS.:
    »Venga«, sagt...

    PS.:
    »Venga«, sagt Alejandro.
    »Suerte«, sage ich.
    Als Alejandro weg ist, ziehe ich die Dose hervor. Es hat lange gedauert, bis ich die richtige Farbe gefunden habe. Ich wollte ALBA auf die Mauer schreiben, jetzt überlege ich es mir anders. Ein zitronengelbes Wort.
    Wenn Alba kommt, wird sie es verstehen.

  3. mugabarru sagt:

    Als ich die Fotos sah,...
    Als ich die Fotos sah, vermisste ich etwas Farbe. Ich dachte irgend jemand, eine Frau oder ein Kind vielleicht, muss doch da mit irgend etwas farbigen durchgerannte sein, so trist auch alles ist bezw. war. Dann las ich ihren Text, Dulcinea. Karl-Marx-Stadt! Amatxu hat mozambiqueños, chilenische und argentische Illegale Exilanten in ihrer damaligen Wohnung aufgenommen. Gegen Mitte/Ende der 70-iger Jahre, in Spanien. Für viele von ihnen war Karl-Marx-Stadt der grosse Traum. DDR und Cuba waren für Exil-Chilenen die grosse Rettung. Irgendwie passt es nicht zu ihrer Geschichte, doch weiss ich auch, dass es die Geschichtge war, egal um welches Ursprungsland es sich handelte. Es war der Traum, egal wie viele Fetzen des eigenen Lebens an den alten Mauern hängen blieben.

  4. HenryCharms sagt:

    Danke für diese schoene...
    Danke für diese schoene Geschichte, Dulcinea. Sie verstehen es meisterhaft diesen Bildern einen Zusammenhang zu geben!
    Manchmal frage ich mich bei Kuba, wo in diesem doch so revolutionserprobten Land, die Revolution bleibt gegen diese Zustaende.

  5. Madrid sagt:

    Eine sehr schöne Geschichte,...
    Eine sehr schöne Geschichte, Dulcinea.
    *
    HenryCharms, man hat oft davon gesprochen, dass Sozialismus in der Karibik eben doch etwas anderes sei. (Gern hat man dabei die reale Unterdrückung verharmlost.) Aber was man überall hören kann, auch von Kubanern selbst, ist, dass sie sich nicht auflehnen. Sie harren aus. Und wenn einer ihnen seit fünfzig Jahren sagt, dass sie die Revolution „haben“, warum sollen sie dann noch eine zweite machen? Eine reicht!

  6. Dulcinea sagt:

    Vielen Dank, das freut mich....
    Vielen Dank, das freut mich. Ich bin aber wirklich nur dem Aufruf von Sanchos Esel „Vielleicht weiß ja eine Leserin Rat“ gefolgt!
    Fotos und Blogeintrag sind wunderbar. Das letzte Foto mit der Tapete an der Aufzugwand ist unglaublich traurig. Ich mußte an Heiner Müllers Glücklosen Engel denken, „wartend auf Geschichte in der Versteinerung“. Herzlichen Dank!

  7. Madrid sagt:

    <p>Dulcinea, ich habe mir das...
    Dulcinea, ich habe mir das letzte Foto, das Ihnen das schöne Heiner-Müller-Zitat eingab, in größerer Auflösung noch einmal genau angeschaut. Ich kann nicht entscheiden, ob es sich bei der Wand um Tapete oder ein steinernes Mosaik handelt, vermute aber das Zweite. „Wartend auf Geschichte in der Versteinerung“, gewissermaßen. Und wissen Sie noch etwas? Ich habe Alejandro wirklich gefragt, ob die sonderbare Konstruktion ein Platz für Mülltonnen sei! Und er wollte das nicht bestätigen. Er sagte mir: No creo. Und tatsächlich ergibt die Struktur zu diesem Zweck keinen rechten Sinn. Dennoch halten wir ein wenig daran fest! Weil uns kein besserer Sinn einfällt. Weil wir uns sagen: Irgendetwas müssen sie sich doch dabei gedacht haben! Vielleicht ist das unser Irrtum.

  8. pardel sagt:

    Wau, Dulcinea, das war cool!...
    Wau, Dulcinea, das war cool! Gratuliere!

  9. pardel sagt:

    Und Sie, Don Paul, sind Sie...
    Und Sie, Don Paul, sind Sie sich immer noch sicher, dass Sie Ihre Fotografierkunst nicht verbessern wollen? Wer bei fremden Bildern so einen treffsicheren Blick hat, der sollte ein Motiv auch als selber Fotografierender wahrnehmen. Die Technik ist nicht schwer. Es geht sogar mit Sowjetkameras. Oder Digitalkameras. Auf das Auge, auf die Wahrnehmung komm es an. Wenn man es sieht, kann man es ablichten. Sie würden es auch können. Es in Worte zu fassen geligt Ihnen ja auch! Wo ist der Unterschied?

  10. Madrid sagt:

    Vielen Dank für die...
    Vielen Dank für die Fürsorge, pardel. Trotz gewisser technischer Lücken habe ich gelegentlich ordentliche Bilder gemacht. Als Jugendlicher habe ich sogar wirklich fotografiert und in der Dunkelkammer gearbeitet. Es war schön. Heute fehlt mir etwas die Systematik. Nicht nur der Weißabgleich. Aber man darf mich nicht abschreiben!

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