Seit Jahren denke ich immer wieder darüber nach, dass man einmal anders über Literatur schreiben müsste, als es im allgemeinen getan wird, nämlich nicht als Analyse des Gelesenen und Erinnerten, sondern als Beschwörung des Vergessenen. Ich habe dann einigen Leuten von dieser Idee erzählt und erhielt nützliche Hinweise. Jemand lieh mir eine philologische Studie über das Vergessen, die ich leider vergessen habe zurückzugeben. Jemand anders sagte mir, wir läsen doch gar nicht mit dem Kopf, sondern nähmen – wie Julien Gracq einmal gesagt habe – die Bücher über die Haut auf, ein Gedanke, der mir sofort einleuchtete. Dennoch kam ich mit meiner hübschen Idee nicht recht weiter, und es mag sein, dass ich sie irgendwann vollständig vergessen haben werde. Es wäre in Ordnung. Wo sonst sollen die vergessenen Dinge lagern, wenn nicht im Vergessen?
Unseren jetzt gestorbenen Kollegen Michael Althen wird niemand von uns vergessen. Ich sage das ohne Pathos. Wir werden uns an ihn erinnern, solange wir leben, nicht nur, weil er der Mensch war, der er nun einmal war (und den ich viel seltener gesehen habe, als ich es gern gehabt hätte, aber das ist eine andere Geschichte, das Gefühl, jemanden durch Lebensumstände verpasst zu haben), sondern auch, weil er in seinen Texten von dem geschrieben hat, worauf es uns am Ende wohl allen ankommt: uns an die Schönheit zu klammern und sie zu bewahren.
Damit ist auch die Schönheit der Frauen gemeint, aber nicht nur sie. Damit ist vor allem das Mitbedenken (und im Schreiben Reflektieren) der Erinnerung gemeint, mit der wir einzig festhalten können, was wir im Kino gesehen oder in Büchern gelesen haben. Denn es geht ja nicht um nachprüfbare Daten oder formulierbare Erkenntnisse. Kino handelt von Gefühlen, und je älter wir werden und je länger wir auf früher gesehenes Kino zurückschauen, desto mehr müssen wir uns bei der Rekonstruktion auf unsere Erinnerung verlassen. So dass wir also von verschiedenen Stufen reden müssten: erstens den Gefühlen, die wir vielleicht einmal selbst empfunden haben (bei der ersten Liebe, der ersten Begegnung mit dem Tod, beim ersten Kind); zweitens den Gefühlen, die ein Film in uns wachgerufen hat; und drittens den Gefühlen, an die wir uns erinnern, wenn wir uns an den Film erinnern. Und wie es so geht im Leben, wissen wir wirklich nicht immer, ob wir uns an die ursprünglichen Gefühle (aus „erstens“) erinnern oder an die Gefühle beim Schauen des Films („zweitens“) oder gar an eine spätere Gefühlskonstruktion, die wir im Lauf der Zeit und mit wachsendem Abstand hergestellt haben, gewissermaßen das Exemplar fürs Archiv. So überlagen wir unsere eigenen Vergangenheitsstufen mit ständig neuen Versionen, bis das, was wir einmal Leben nannten, Rezeptionsgeschichte geworden ist.
All das war Michael Althen klar, weshalb seinen Texten über das Kino und das Leben jede Naivität fehlt. Doch zugleich haben sie etwas Unschuldiges, fast Kindliches bewahrt. Er wusste, dass die Bilder auf der Leinwand Ausdruck (und Spiegel) von Sehnsucht sind. Darüber zu schreiben ist verteufelt schwer, denn links droht das nutzlose Philosophieren, rechts der Kitsch. Und doch hat er es geschafft, über die Macht dieser Bilder, Verkörperungen, Gesten und Dialoge so zu schreiben, dass wir es verstanden. Oder mehr: Er schrieb so, dass wir mit unseren eigenen Erinnerungen an seine anknüpfen konnten.
In einem schönen Gespräch über seinen Blick auf die Filmgeschichte hat er auch von der Magie des Nichtgedrehten, Nichterzählten gesprochen. Den Bildern, die sich der Filmkritiker erträumt oder herbeiphantasiert, von denen er aber weiß, dass sie nie verfügbar sein werden. Sehnsucht nach Schönheit. Was sonst? Er spricht dort auch über das Vergessen, wenn ich mich richtig erinnere, über die „Schlieren“, die von unseren Eindrücken in der Erinnerung bleiben, aber statt das jetzt nachzubeten, sage ich lieber: Sehen und hören Sie selbst.
Lieber Don Paul, kehre grade...
Lieber Don Paul, kehre grade von der Beerdigung der Mutter eines meiner besten Freunde zurück. Die Auseinandersetzung mit dem Tode findet für viele von uns nur am Rande oder oft erst dann statt, wenn es soweit ist. Bei mir sind Grabstein, Musik zur Zeremonie und Bauplan für meinen Sarg schon im Entwurf. Die Erinnerung an einen Menschen ergibt sich nicht nur aus dem, was er sagt sondern auch, wie er es sagt. Der Klang seiner Stimme in unseren Ohren prägt das Bild dieses Menschen und „den Film, den ich mit ihm gefahren habe“. Die besagte Verstorbene war einfach und ehrlich, herzensgut, immer offen und lieb zu allen, sie war anrührend. Insbesondere erinnere ich mich an ihre zuckersüße, lustige und fröhliche Stimme, mit der sie Gäste umsorgte. Man schloss sie unmittelbar ins Herz und hätte ihr niemals böse sein können.
Die Stimme eines Menschen ist wie der Soundtrack zu einem Film. Er eröffnet quasi eine vierte Dimension, die Gefühle schafft. Galoppiert eine Herde von Pferden in Zeitlupe über eine romantische Wiese, dann betrachtet man das bei darübergelegtem Wiener Walzer anders als mit AC/DC im Hintergrund. Meine markantesten Beispiele dafür sind die Filme Koyaanisqatsi und Easy Rider.
Das nicht gesehene, das der Kritiker sich manchmal wünscht wird vielleicht im Director´s Cut oder im Bonusmaterial gezeigt. Laut Dennis Hopper wäre seine Version von Easy Rider dreieinhalb Stunden lang (der Rest ist angeblich verschollen). Die Bilder könnte ich mir vielleicht denken, die Musik aber nicht. Das Kinoerlebnis damals lebt heute immer noch in mir fort, wenn ich an die Zeilen denke: „Let your motor running, get out on the highway!“
Manchmal ist entscheidend, wie jemand etwas sagt. Zeit für mich, Denkpause zu machen.
<p>Sie haben recht, rouleur,...
Sie haben recht, rouleur, mit der Stimme und dem, was sie weiterträgt über den Tod hinaus. Wenn man Michael Althens Film Auge in Auge sieht, hört man wieder diesen Erzähler, der ziemlich genau so schrieb, wie man sich einen Text gesprochen wünscht.
Michael Althen konnte wohl so...
Michael Althen konnte wohl so schreiben, wie ihm der Schnabel gewachsen war.
Hallo Don Paul,
ich habe bis...
Hallo Don Paul,
ich habe bis jetzt keine einzige Bericht von FAZ bezüglich die aktuelle und ich glaube historische Proteste in Spanien?
Es wäre schon ein Post von Ihnen über die aktuelle Proteste in Plaza del Sol
Doch, in der heutigen Zeitung....
Doch, in der heutigen Zeitung. Ein Blog folgt.
Auch ich vermisste einen...
Auch ich vermisste einen Beitrag bezüglich der „indignados/as“, zu denen ich auch zähle. Seit letzten Sonntag bin ich täglich in der Puerta del Sol, jetzt als „Puerta de la Solución“ umgetauft. Ich, 50+ und seit zwei Monaten arbeitslos, bin begeistert. Soviel Kreativität, Naivität, Enthusiasmus begeistert mich. Hoffnung habe ich aber keine, dafür bin ich zu alt. Aber diese pulsierende Kraft in Sol, diese Ansammlung von jungen, mittleren und alten Menschen die es einfach satt haben, „no tiene precio“ wie der Webeslogan einer Kreditkarte verkündet. Ich habe viele Bekannte, Freunde, Kinder von Bekannten und Freunden angetroffen. Ich wäre zufrieden wenn manches an den Privilegien der Politiker und hauptsächlich das Wahlgesetz, das D’Hondt Verfahren, verändert wird. Leider habe ich sogar an der Verwirklichung dieses bescheidenen Wunsches (meine tollkühne Träume erspare ich Ihnen) Zweifel. Die Parteien sind zwsar zerstritten, doch was ihre Privilegien angelangt, da haben sie keine Zweifel. Das bezeugen die verschiedenen Fraktionskämpfe in ALLEN Parteien, seien es PSOE, PP, IU oder UPyD. Die öffentlichen Reaktionen der verschiedenen Parteien sind besachämend. Alle versuchen die Schuld auf die andere Partei zu vesrhieben, obwohl alle Verständnis zeigen. Die PP meint, die 5 Millionen Arbeitslose seien Schuld der Regierung, deshalb sollten die Demonstranten sich gefälligst vor der Moncloa treffen, der Kandidat der PSOE zum Presidente de la Comunidad de Madrid, der sowieso keine Chancen hat, meint er stimme mit der Forderung nach „realer Demokratie“ überein, schliesslich habe er ja „primarias“ in seiner Partei gefordert. Von rechts wird gefragt „welche Kräfte das ganze manipulieren“. Sie verfolgt noch immer die Angst nach ihrem Wahlverlust bedingt durch ihre eigene Unfähigkeit das Attentat vom 11. März und die Beteiligung am Irak-Kriegvor ihrem dem Wahlergebnis nach ihrer eigenen Unfähigkeit dieses Drama politisch zu handhaben. Der PSOE fällt nichts anderes ein, als vor den Barbaren zu warnen, und kleinere Parteien versuchen zu verführen, indem sie sich als das kleinere Übel darstellen. Aber die indignados sind nicht nur in Madrid, es gibt sie auch in vielen anderen Städten. Und je mehr Standard-Politiker sei es von rechts oder links versuchen die Bewegung für sich zu nutzen, desto verärgerter reagieren die Bürger. Ich traf viele Bekannte, schloss mich schliesslich einer Gruppe von Historkern und Archivaren an, die „fehlendes Material“, Papier, bemängelten. Auch die Performance eines Alt-68 der seine Pariser Erfahrungen erzählte, haben wir uns erspart. Die Mischung ist heterodox, aber sehr interessant. Schliesslich, wir sind ja Spanier und 50+, haben wir uns in der „Fontana de Oro“ in der calle Victoria geflüchtet, eben weil wir alle das Gefühl hatten wir wären in einem Roman von Galdós. Der Kellner, Südamerikaner, meinte es sei viel Trubel in Sol, er wäre nach Spanien gekommen um zu studieren. Einer der Bekannten meinte, wenn du nach dem Studium noch eine anständige Arbeit willst, solltest du in Sol Wache schieben, es ginge ja um viel mehr als die traurige Wahlrechtsreform einiger traurigen Figuren, also ich. Der Kellner meinte,wenn es in Europa nicht klappen sollten, könne er immer noch in sein Land zurück, um da sein Glück zu versuchen. Aber da musste ich ihn enttäuschen: es ist, leider, ein globales Problem. Und Frau Merkel leistet sich billigen Populismus. Jeder Spanier wäre begeistert über deutsche Arbeits-aund Wohlfahrtsleistungen.
Am Sonntag wird gewählt,...
Am Sonntag wird gewählt, Kommunalwahlen. Aber was wählen? So verärgert, „indignados“,wie wir sind, was wählen. Keine der Parteien vertritt uns wirklich. Nicht einem das Nase zudrücken hilft diesmal. Sich der Stimme enthalten, dafür war der Kampf um die Demokratie in Spanien zu hart. Es bleibt nur „voto inútil“, also so wählen, dass die Stimme anulliert wird. OK wurde schon von baskischen Nationalisten, ohne Erfolg, versucht, aber jetzt ist die Situation anders. Es gibt keine andere Möglichkeit wenn wir wirklich etwas ändern wollen, auch sei es nur das Wahlgesetz. Warum braucht Madrid fast 600 Abgeordnete für die Comunidad, wenn in der letrzten Legislatur-Periode kein einziges Gesetz verabschiedet wurde. Vielleicht, mit einer Reform, reichen uns 50 fleissige Abgeordnete. Und diese müssen mit offenen Listen gewählt werden, ohne Parteikratie. Und danach mussn der Senat abgeschafft werden.
Herr Ingendaay, ich freue mich auf Ihren Beigtrag im Blog.
Gatamad, ich muss ein wenig...
Gatamad, ich muss ein wenig bremsen. Meine erste Aufgabe sind die Artikel für die Zeitung. Daran arbeite ich. Morgen wird ein langer Tag. Bitte schreiben Sie selbst weiter wie bisher! Das gilt auch für die anderen. Ich fände es schön, wenn der Blog auch als Pinnwand funktioniert. Sie haben doch sicher die Pinnwände an der Puerta del Sol gesehen? So ungefähr.
Leider war ich in den letzen...
Leider war ich in den letzen Wochen nicht oft online und werde das auch in den naechsten Wochen nur gelegentlich sein koennen. Daher werde ich das Posten zu diesem Thema sehr vermissen. Ich wuerde gerne auch an der Puerta del Sol sein und die Leute unterstuetzen. Mir gehen die beiden grossen Parteien, die sich in gegenseitigen Anschuldigungen ueberbieten, aber wenig Substanz fuer Loesungen haben ja auch seit einiger Zeit gegen den Strich.
Mal sehen, was die Wahlen bringen. Und wie der Protest danach weitergeht. Ob er sich bis zur Wahl naechstes Jahr haelt, oder gar noch mehr aufbaut? Gibt es nach der Arabellion etwa eine Iberevolution?
Jetzt werde ich Sie alle gegen...
Jetzt werde ich Sie alle gegen mich aufbringen … verzeihen Sie, gatamad, HenryCharms, ich schätze Sie sehr, nur … Protest? Entschuldigen Sie. Ich verstehe es nicht ganz. Ich bin allerdings auch nicht dort gewesen, das gebe ich gerne zu. Mich regt an den Bildern, die mich erreichen, vor allem eins auf: wenn ich protestiere, dann muß ich doch zuerst einmal mich selbst befragen. Nein? Es haben doch alle mitgewirkt an der Situation heute. Es ist mir zu einfach, alles auf die Politiker zu schieben (der König ist schuld). Spanische Politiker verdienen mit der Politik, so weit ich weiß, vergleichsweise eher nicht so viel. Ich sehe noch immer nicht die gravierenden Fehler, die angeblich gemacht wurden. Spanien hat das griechische und portugiesische Schicksal bislang abwenden können. Vielleicht erzählen Sie mir einfach einmal, was die Menschen in dieser República del Sol gern wollen. Ich jedenfalls bin nicht indignado, ich bin indignado indignado! (Lasse mich aber belehren, bin ja, wie mein lieber mugabarru immer sagt, auch eine Frau fast ohne Vorurteile).