Inzwischen war ich drei Mal an der Puerta del Sol – nachmittags, abends und nachts. Wenn es dort voll wird, kann man sich eigentlich nur in die Reihe der Heringe stellen und nach hier- und dorthin drücken lassen. Aber es war nett. Über die sieben Tage des Protests hinweg hat sich eine gewisse Disziplin entwickelt, die Friedlichkeit der Aktion steht ohnehin außer Frage. Also alles in Ordnung? Das denn doch nicht. Und ich meine nicht die fundamentale Berechtigung des Protests, auch wenn man sich fragen müsste, wie es denn weitergehen soll. Die Leute werden sich dort ja keine Badezimmer bauen. Hier ein paar Anmerkungen zu Dingen, die mir aufgefallen sind.
1. Um sich über die Ziele der indignados und ihre Regierungsform zu informieren, sollte man Público lesen. Ich wundere mich darüber, dass in anderen Zeitungen so wenig konkrete Informationen zu den Entscheidungsprozessen zu lesen sind. Natürlich verstehe ich, dass ABC nicht besonders geübt darin ist, auf die Straße hinabzusteigen, es sei denn, es handele sich um Wahlveranstaltungen der Volkspartei; dennoch hätte ich mir mehr pure Berichterstattung und weniger Wertung gewünscht. Um es also schnell zusammenzufassen: El Gobierno de la República del Sol hat eine Vollversammlung (Asamblea), das höchste Organ für Debatten und Beschlüsse. Von dort gehen zehn Ausschüsse (Comisiones) aus, deren Aufgabenfelder lauten: Alimentación – Infraestructura – Respeto y Cuidados – Comunicación – Extensión -Acción – Coordinación interna – Legal – Sonido. Ich will nicht vorgeben, Genaueres zu wissen. Nur, dass die Regierungsform horizontal angelegt ist und es rotierende „Sprecher“ geben soll, das Ganze erinnert im Kleinen an die Anfänge der Grünen, die ja auch einmal angetreten waren, die Personalisierung und den Starkult der Politik zu durchbrechen, bis sie in Joschka Fischer ihre größte Führungsfigur fanden. Aber das ist eine andere Geschichte. Die Abstimmungen laufen per Handheben ab, mit sicherlich unvermeidlichen Ungenauigkeiten. Für weiter entfernt Stehende ist nicht immer erkennbar, wo die Vollversammlung aufhört und der Pulk von Neugierigen, Sympathisanten, Touristen, Taschendieben und Undercover-Agenten beginnt. Aber gut.
2. Soziologisch ist dieses kleine Universum sehr interessant, und zwar aus mehreren Gründen. Bei all den getroffenen Entscheidungen müsste man nämlich fragen, wer sie denn umsetzen und im Zweifelfall ihre Umsetzung erzwingen soll. Wer genau ist der Adressat dieser Forderungen? Mal dieser, mal jener. Und was geschieht, wenn irgendwann nach der Wahl wirklich die Polizei kommt und morgens um fünf Uhr mit dem großen Besen ausfegt? Und wer wird für die indignados sprechen, wenn sie nicht mehr an der Puerta del Sol kampieren dürfen? Ungelöste Fragen.
3. Der Beschluss des Zentralen Wahlrats, keine Versammlungen am „Tag der Reflexion“ zuzulassen, hat der Regierung stark zugesetzt. Unter den gegebenen Umständen war die Entscheidung, die Menge zu dulden, vernünftig. Aber es war eben auch ein opportunistisches Einknicken vor der schieren Masse der Wähler, die zu den Protestierenden zählen oder mit ihnen sympathisieren. Wie überhaupt alle Sätze, die vor der Wahl gesprochen wurden, nach der Wahl auf ihre Ernsthaftigkeit zu überprüfen wären.
4. Es ist kein „rechtes“ oder rein ordnungspolitisches Gedankenspiel, wenn man sich fragt, was in Zukunft passiert, wenn eine gut organisierte Gruppe unbehelligt einen öffentlichen Platz besetzt und die Erfüllung des Gesetzes unmöglich macht. In diesem Licht ist das Kokettieren Zapateros mit den indignados besonders unangenehm. Er will nicht gemeint sein, ist es aber. Er vor allem.
5. Der wichtigste Gedanke – die Lehre, wenn man so will – dieser Tage könnte sein, dass die Bevölkerung Formen demokratischer Beteiligung einfordern kann, die in der Routine der Parteiendemokratie nicht vorgesehen sind. Plötzlich entwickelt „die Straße“ einen Druck, der über Volksbefragungen und genehmigte Demonstrationen hinausgeht. Unter den Soziologen, die sich in den Zeitungen dazu äußerten, war keine Einigkeit zu erkennen, wie es denn weitergehen könnte. Der eine fand den Vorgang aufregend, belehrend, ein Modell für irgendetwas Zukünftiges, für das es noch keinen Namen gibt. Ein anderer meinte, der Protest werde bald verpuffen.
6. Wichtige Erkenntnis: Wir wissen nicht, was sich entfalten kann, wenn sich eine größere Zahl Menschen darüber einig ist, was sie fordern oder bekämpfen will. Die selbstauferlegte „horizontale“ Form der Beschlussfassung dürfte aber wohl verhindern, dass die hier entwickelten Ideen zu tiefgreifenden Veränderungen führen. Die Leitfiguren (die es immer gibt – wenn nicht jetzt, dann demnächst) werden sich irgendwann vom Willen der Menge absetzen oder vereinnahmt werden. Der homo politicus als solcher ist nicht gut. Entscheidungen entstehen durch Reibung, Debatte und Kampf, nicht durch gutherzige Parolen, wie sie die freien Flächen an der Puerta del Sol bedecken. Ein Teil der Sympathie für diese Bewegung gilt auch der Naivität und Nettigkeit ihrer Anhänger.
7. Dass der Staat mit großen Augen auf diese meist jungen Leute starrt und sich aus Unsicherheit kleinmacht, ist falsch. Die Parteien sollten einerseits eine Debatte über Formen direkterer Teilnahme beginnen, andererseits geschlossen fordern, dass die Zeltlager möglichst bald abgebrochen werden. Rubalcabas Versäumnis liegt auf der Hand: Am letzten Montag hätte er räumen lassen müssen, und wenn jeder Demonstrant von je vier Polizisten hinausgetragen worden wäre. Ein demokratischer Staat darf das. Wollte Rubalcaba aber nicht, denn das hätte Wahlstimmen gekostet.
8. Um einmal staatstragend zu werden: Demokratie kann nicht so funktionieren, dass sich eine bestimmte Gruppe eine Minidemokratie innerhalb der Demokratie bastelt und deren Beschlüsse dann den weiter draußen Lebenden aufzwingt. Dazu fehlt es an Legitimation. Die indignados sollten eine Partei gründen oder andere Formen der Bürgerbeteiligung finden.
9. Das Großsprechertum über die angeblichen Wirkungen des Protests im Ausland finde ich einigermaßen peinlich. „#spanishrevolution“! ¡Por favor! Was ist denn daran eine „Revolution“? Überhaupt das ganze Gezwitschere in den sogenannten sozialen Netzen. Hat sich mal jemand angesehen, was da kommuniziert wird? Vorwiegend heiße Luft. Sagen wir es offen: Die ganze Sache ist auch verdammt unterhaltsam. Man fühlt sich besser, wenn man sich den Ärger mal von der Seele brüllt. Der Festivalcharakter des Protests steht jedenfalls außer Frage. Aber das allein kann ja wohl nicht gemeint sein.
So viel für heute.
[ Fotos : AFP, AP, dpa ]
"Demokratie kann nicht so...
„Demokratie kann nicht so funktionieren, dass sich eine bestimmte Gruppe eine Minidemokratie innerhalb der Demokratie bastelt und deren Beschlüsse dann den weiter draußen Lebenden aufzwingt.“
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Lieber Herr Ingendaay, Demokratie hat nie anders funktioniert. Was ist denn eine etablierte Partei anders als genau so eine Gruppe?
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Oder das Treffen der EU-Staats-und-Regierungschefs?
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Aber gut, Sie meinen natürlich die Nichtprivilegierten.
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Klar, die Leute auf dem Platz sollen jetzt halt auch einfach eine Partei gründen, ihren Willen artikulieren, Wahlen gewinnen und dann im Parlament ihre legitimen Interessen in der vorgesehenen Weise vertreten!
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Das wäre das Szenario aus dem Demokratie-Bilderbuch, das aber mit der Realität leider nicht mehr zu tun hat als das Marktwirtschafts-Bilderbuch mit der Bankenrettung.
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Ja, man könnte im Rückblick einen historischen Erfolg der Arbeiterbewegung, der Gewerkschaften und der parlamentarischen Demokratie darin sehen, im Lauf des 20. Jahrhunderts das Volk in den politischen Prozeß integriert zu haben.
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Aber was ist in den letzten 20 Jahren passiert? Die Gewerkschaften haben sich aufgelöst, die Interessen der Unterschicht will sich niemand mehr zu eigen machen, die Entpolitisierung der Jugend allseits begrüßt und das Volk ansonsten mit Sport und Privatfernsehen zugeballert — und jetzt wundern sie sich, dass sich das Volk auch selber genau so benimmt?
<p>Hans Meier555, ich teile...
Hans Meier555, ich teile Ihre Sympathie für das, was dort geschieht. Sie ist in meinen Artikeln und auch in meinem Blog sichtbar. Ob Sie selbst sich meine Fragen früher stellen oder später stellen, ist dabei nicht so wichtig.
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Ihren letzten Satz finde ich kryptisch. Das Volk benimmt sich ja gerade nicht so, wie die Verdummungsindustrie es sich mal ausgerechnet hat.
Ach so, Entschuldigung! Es...
Ach so, Entschuldigung! Es ging um das Räumen des Platzes, das Rubalcaba am Montag versäumt habe, und ich hatte nur daran gedacht, daß 1989 auch nicht geräumt wurde und alle waren nachher froh darüber. Ich meinte damit, es ist gewaltlos immer besser, so oder so. Ich drücke mich ungeschickt aus.
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Das hier fand ich übrigens sehr schön: „Für weiter entfernt Stehende ist nicht immer erkennbar, wo die Vollversammlung aufhört und der Pulk von Neugierigen, Sympathisanten, Touristen, Taschendieben und Undercover-Agenten beginnt.“ Darüber habe ich sehr lachen müssen.
Natürlich habe ich gesehen,...
Natürlich habe ich gesehen, dass es im Blattinneren Artikel zum Thema gab; aber eben nicht auf der Titelseite. Sogar bis heute morgen oder bis jetzt? und das obwohl Wahltag ist! Aber natürlich ist das nicht Ihre Entscheidung. Es wundert mich bloß! Und Ihren Blog lese ich jedesmal sehr gerne, ja ich freue mich immer schon darauf -auch wenn ich nicht immer einer Meinung mit Ihnen bin! democracia real, eben…;))
Aber, Dulcinea, wir müssen...
Aber, Dulcinea, wir müssen doch nicht ganz so weit zurückgehen, oder? Ist es nötig, auf die feinen Unterschiede zwischen der Situation 1989 und der Situation an der Puerta del Sol im Jahr 2011 hinzuweisen?
Natürlich habe ich gesehen,...
Natürlich habe ich gesehen, dass es zum Thema Artikel im Blattinneren gab, aber eben nicht auf der Titelseite. Ich glaube bis jetzt nicht und das wundert mich schon sehr. Immerhin ist heute Wahltag. (natürlich ist das nicht Ihre Entscheidung)
Gleichzeitig möchte ich aber auch sagen, dass ich Ihren Blog jedes mal sehr gerne lese, ja mich immer schon darauf freue, auch wenn ich nicht immer einer Meinung mit Ihnen bin. democracia real eben…….;)))
Nein Herr Ingendaay,
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über...
Nein Herr Ingendaay,
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über die Entscheidungen der Funktionsträger wird eben nicht in Wahlen abgestimmt, nur über ihre Person.
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Auf die Entscheidungen, welche die gewählten Personen in der vierjährigen Legislaturperiode dann treffen, hat der Wähler, wie Sie ja wissen, hinterher, keinerlei Einfluß mehr.
Ja, aber wie könnte es anders...
Ja, aber wie könnte es anders sein? Über die Person wird doch im Licht von Wahlprogrammen entschieden. Was einer dann tut, gehört der Zukunft an – und der durch den Wähler erteilten Zensur in Form einer Abstimmung vier Jahre später. Rodrigo Rato war Direktor des Internationalen Währungsfonds und hat seine Arbeit ungefähr so erledigt, wie man sich das bei seiner Wahl erhofft hatte. Bei Dominique Strauss-Kahn ist etwas dazwischengekommen.
Herr Ingendaay,
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auch ich...
Herr Ingendaay,
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auch ich teile ja Ihre Vorbehalte gegenüber Demonstrationen. Eine Artikulationsform, die nichts ist als physische Präsenz, ist durchaus dumm.
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Viel klüger wäre es, wenn die jungen Leute Parteien gründen, Argumente vortragen und dann und Wahlen gewinnen würden! Das muss jeder zugeben. Aber aus Erfahrung wissen wir, dass das Volk zur konstuktiven politischen Willensbildung nicht in der Lage ist. Es ist nun mal dumm: es kann immer nur akklamieren oder protestieren, artikulieren kann es sich nicht. Es kann ein Regime stürzen, nicht aber sich selbst regieren.
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Das können nun einmal nur die Eliten und eben darum (und nicht weil sie „gewählt wurden“) haben sie auch das Recht, im Zweifelsfall öffentliche Plätze räumen zu lassen.
Ich komme nicht ganz mit,...
Ich komme nicht ganz mit, Sanchos Esel, vielleicht das warme Wetter? Verzeihung. Ich dachte, Sie fragten nach der Arbeiter-und-Bauern-Diktatur. Da muß man dann eben so weit zurückgehen, um eine Antwort zu geben.