Zu früherer Gelegenheit habe ich einmal geschrieben, Buchhändler seien die besten Menschen der Welt, und obwohl ich weiß, dass solche Pauschalurteile nicht zutreffen können, dass es sicherlich einige schauerliche Gegenbeispiele gibt und in diesem Zusammenhang viel zu wenig über Sportlehrerinnen, Änderungsschneiderinnen oder Obstverkäufer gesprochen wird, von Zeitungsjournalisten ganz zu schweigen, wiederhole ich hier und jetzt: Buchhändlerinnen sind die besten Menschen der Welt. Besonders jene, die in Antiquariaten arbeiten. Hören Sie von meiner kleinen Begegnung mit … Nennen wir sie Agrippina.
Im Urlaub habe ich mich aus Gründen, die ich selbst nicht ganz durchschaue, mit den Kreuzzügen beschäftigt. Nach der Lektüre des ersten Bandes von Steven Runcimans legendärem Werk wollte ich etwas mehr über den Historiker selbst erfahren (er starb 2000 im Alter von siebenundneunzig Jahren) und bestellte bei einem englischen Antiquariat sein Buch A Traveller’s Alphabet: Partial Memoirs. Die Beschreibung des 1991 erschienenen Bandes im Internet lautete: „First edition, unclipped dust jacket lightly creased and worn along top and bottom edges, front cover bottom corner worn, original price label on back cover. Book and pages as new. Book dispatched within two working days by first class post.“
Das alles traf zu. Das praktisch neuwertige Buch traf kurz darauf in Madrid ein, ich blätterte es durch, las mich fest, riss mich los und blätterte weiter … Da sah ich es. Ich traute meinen Augen nicht, blätterte zurück und wieder nach vorn. Aber es stimmte. Die Seiten 65 bis 80 waren zweimal gedruckt worden. Sie folgten unmittelbar aufeinander. Dafür fehlten die Seiten 81 bis 96. So etwas kommt vor. Nicht oft, aber manchmal. Ich habe in meiner Bibliothek einen weiteren Fall. Wie viele Bücher einer Auflage von so einem Fehldruck jeweils betroffen sind, weiß ich nicht. Jedenfalls schrieb ich dem Buchhändler eine E-Mail. Ich schilderte den Makel und fragte, ob es das Buch in seinen Beständen vielleicht noch einmal gebe, damit man es umtauschen könne? Die Antwort von „Agrippina“ ließ nicht lange auf sich warten.
„Thank you very much for your email. This is the first time that such an issue has ever happened and we are so sincerely sorry. Albeit we do check each book, clearly we missed that production fault, which has rendered the book nearly useless. How frustrating and disappointing for you.
I have already refunded your entire order including postage. This refund should already be showing on your Amazon account. Please keep the book – it may be of some use to you. Sadly we do not have another copy, however I have checked the book listing on Amazon and there are other very good copies at competitive prices so hopefully you will be able to obtain another, perfect copy. It is unlikely that this same production fault is repeated in other copies in the same batch, however to avoid further disappointment and wasted effort on your part, it may be wise to get the chosen seller to check their edition to make sure all is in order!
I sincerely hope that refunding your costs in some way compensates you for your disappointment and subsequent efforts, meets with your approval and expectations and hope this does not put you off buying from us again in the future. Best wishes, Agrippina.“
Sie werden ahnen, was mir durch den Kopf ging, als ich diese Zeilen gelesen hatte. Ich musste sie gleich noch einmal lesen. Ich dachte an Telefónica, an meine französische Klimaanlagenfirma, an alle Dachdecker dieser Welt und den Sinn des Lebens. Als ich wieder zu mir kam, schrieb ich Agrippina, immer noch leicht benommen, einige Dankeszeilen und versicherte ihr, gern ihr treuer Kunde bleiben zu wollen. Darauf schrieb sie das Folgende:
„Thank you for such a charming and kind email and your great feedback – very appreciated. Sincerely hope you get a replacement book soon. Looking forward to hearing from you again in the future – we’ll check the pages next time! Very best wishes, Agrippina.“
Haben Sie das gelesen? Agrippina will die Seiten aller eingehenden Bücher prüfen! Sie will untersuchen, ob irgendwelche Seiten doppelt gedruckt wurden! Ich fasse es nicht. Es geht nicht darum, dass sie das am Ende kaum schaffen wird, weil so eine Kontrolle, bei Licht betrachtet, die Möglichkeiten jedes Antiquars überstiege. Es geht darum, dass sie schreibt, es tun zu wollen. Damit sagt Agrippina soviel wie: Ich werde mich um Ihr Problem kümmern. Ich werde alles unterrnehmen, um Schaden von Ihnen und anderen Buchkäufern abzuwenden. Nicht die reale Möglichkeit ist das Thema, sondern die Geste des Kundendienstes.
Ich schrieb noch einmal zurück, ob sie etwas dagegen habe, wenn ich in meinem Blog von unserem Fall berichtete, er komme mir bemerkenswert vor. Doch Agrippina meldete sich nicht mehr. So, denke ich, muss es sein. Denn würde Agrippina sich bei mir melden, könnte sie nicht mehr ihrer buchhändlerischen Arbeit nachgehen – das Prüfen der Seiten neu eingegangener Titel nicht zu vergessen! -, und außerdem bin ich mir fast sicher, dass andere, frisch hinzugekommene Buchkäufer ihres Trostes jetzt dringender bedürfen als ich. Wir Leser, wir Kunden sind ja sehr viele; doch es gibt nur eine Agrippina.
Der selbstverständliche...
Der selbstverständliche Anstand des guten Handwerkers. Selbstverständlich? Hüstel. Verzeihung, falsches Jahrhundert …
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Der Artikel zeigt, was uns durch die Industrialisierung (in diesem Falle der von Dienstleistungen) verlorenging.
Gruss,
Thorsten Haupts
Es gab einmal in München ein...
Es gab einmal in München ein Antiquariat einer Kunstbuchhandlung mit hohen Räumen, und eine kurze, wohlgeformte Buchhandelsauszubildende, die für die gebrechlichen Professoren immer nach oben auf die Buchleitern stieg. Sie trug stets nur dunkle Wollkleider, und immer wenn sie da war, waren auch Professoren da, die Bücher von ganz oben wollten. Immer, wenn sie dort war, gingen die Umsätze steil nach oben wie die Bücherleiter. Und das Antiquariat lohnte sich erst nicht mehr, als sie durch lange, anämische Kolleginnen in Jeans ersetzt wurde, die auch ohne Leiter ganz nach oben kamen.
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Die wohlgeformte Buchhändlerin betreibt jetzt ihr eigenes Cateringunternehmen, weshalb ich Köchinnen und Konditorinnen dieser Klasse ebenfalls zu den besten Menschen zählen möchte.
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(Schön, dass es hier weiter geht)
Ja, lieber Don Alphonso, da...
Ja, lieber Don Alphonso, da mag es Zusammenhänge geben. Wie wichtig ist es, sich entziehen zu können!
Ich habe vergessen, ein hübsches Detail zu erwähnen. In dem fehlerhaften Band von Runciman fehlt sein Eintrag über Los Angeles, aber der über Istanbul ist glücklicherweise vorhanden. Genau, wie es sein muss.
Vielleicht ist ja der St....
Vielleicht ist ja der St. Andreas Graben einmal durch das Buch gelaufen, und es ist eine gedruckte Plattentektonik.
Das nenne ich Phantasie! Doch...
Das nenne ich Phantasie! Doch im Ernst frage ich mich: Wie viele solcher Exemplare mag es geben?
Habe gerade den Istanbul-Eintrag gelesen. Runciman war 1924 zum erstenmal in der Stadt, ein Jahr nach dem Aufstieg Kemals und der Gründung der türkischen Republik. 1928, bei seinem zweiten Besuch, waren die gesellschaftlichen Veränderungen mit voller Wucht zu spüren. Die Zwangsverschleierung etwa war zwangsaufgehoben worden. „Many years later“, schreibt er, „I made friends with a Turkish lady who had been a great beauty in her time. She told me that the enforced removal of the veil had spoiled her life. When you were veiled, she said, you could deceive your husband under his eyes.“
Runciman. Wirklich...
Runciman. Wirklich interessant. Seine partial memoirs will ich jetzt auch lesen: „In his personal life, Runciman was an old-fashioned English eccentric, known, among other things, as an aesthete, raconteur, and enthusiast of the occult. According to Andrew Robinson, a history teacher at Eton, ‚he played piano duets with the last Emperor of China, told tarot cards for King Fuad of Egypt, narrowly missed being blown up by the Germans in the Pera Palace hotel in Istanbul and twice hit the jackpot on slot machines in Las Vegas‘.“ (Wikipedia)
Neulich kaufte ich im kleinen...
Neulich kaufte ich im kleinen deutschen Städtchen Borna ein Heft, „72 S., aus dem Protokoll zur Beratung des Sekretariats des Zentralvorstandes der … anläßlich des 70. Jahrestages der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution … paperback, guter bis sehr guter Zustand“. Das Heft, das wenig später bei mir eintraf, war säuberlich verpackt, nur leider nicht in die Leipziger Volkszeitung, auf die ich mich schon gefreut hatte, sondern in einen „Toppits® Doppel-Zip-Verschluss Gefrierbeutel“. Das hat mir viel zu denken gegeben. Einerseits regnet es in Deutschland wirklich viel im Sommer, ein Durchweichen meines Heftchens auf dem Postweg war im Gefrierbeutel natürlich vollkommen ausgeschlossen, und ich danke dem Versandhändler. Andererseits gab das gelbgraue, vollkommen schmucklose Pamphlet mit dem alten FDGB-Schriftzug ein poetisch-schauriges Bild, wie es da so im Westgefrierbeutel lag – als ob es gerade aus dem Eisschrank entnommen worden wäre oder schnellstmöglich in diesen rücküberführt werden sollte. Ich habe diese mir neue und feinsinnige Verpackungsmethode jedenfalls sehr bewundert und den Gefrierbeutel erst nach einer Woche vorsichtig von meinem Heftchen entfernt.
Ich habe das nur in zwei...
Ich habe das nur in zwei meiner Bücher; eines ist „Der glücklose Reisende“ von Thomas Nashe, in dem zweimal Rom vorgekommen ist – eine sehr feine Sache übrigens, wenn man seine eigene, durchaus elisabethanische Haltung zum Papsttum bestätigt sehen möchte. Ich weiss allerdings nicht, was es dafür verschüttet hat – ich wollte das Buch noch einmal bestellen, aber dann kam die Wende und Aufbau Ost hatte das Buch nicht mehr. Auch das andere kommt aus der DDR, da aber ärgert es mich: Mirabeau, Meine Bekehrung. Ich schätze die Beschreibung des Papsttums so, dass ich sie zweimal lesen mag und auf anderes verzichte, aber 30 fehlende Seiten Sexualfreuden – die sind ein grosser Verlust.
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Ich glaube aber, das ist schon wirklich nur sehr, sehr selten. Vielleicht dachte man in der DDR ja auch, dass es die falschen Exemplare für den Klassenfeind auch tun.
Also, es ist kein Druckfehler,...
Also, es ist kein Druckfehler, sondern ein Bindefehler. Wie ich den Seitenangaben entnehme, ist das Buch in Bogen zu 16 Seiten gebunden. Die Signatur 5 (S. 65-80) ist zweimal zusammengetragen worden, dafür fehlt Signatur 6 (S. 81-96). Das kommt vor. An der Zusammentragmaschine betreut eine Hilfskraft mehrere Stationen und da kann es schon mal vorkommen, daß ein Bogen im falschen Magazin landet. Bei modernen Aggregaten merkt das die Maschine und stoppt. In diesem Fall ist offensichtlich auf älterer Technik produziert worden. Es ist auf jeden Fall damit zu rechnen, daß das ein Unikat, wenn nicht sogar ein Unikum ist. Andere Exemplare des Buches werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Fehler nicht haben. Es sei denn, daß ein ganzer Stapel falscher Bogen ins Magazin gelegt wurde, was ich dann für die betroffene Buchbinderei nicht hoffen will.
Danke, Savall, das war sehr...
Danke, Savall, das war sehr erhellend! Mein anderes Exemplar mit einem solchen Bindefehler war ein Roman von Anthony Trollope. Nun könnte man sagen, dass es bei Trollope nicht auffällt, sechzehn Seiten mehr oder weniger zu haben. Aber 30 Seiten Sexualfreuden, deren Fehlen Don Alphonso beklagt, sind etwas ganz anderes. Darf ich bei der Gelegenheit fragen, ob irgendjemand Erfahrungen mit einem E-Reader hat?