Sanchos Esel

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Spät essen, laut reden, wenig schlafen, kein Fahrrad haben, die Mülltrennung vergessen, dem berühmtesten Fußballverein der Welt zugucken, bei Rot

Ein halbes Jahrhundert Bob Dylan

| 14 Lesermeinungen

Noch eine gute Stunde bis zur Verkündung des Nobelpreises für Literatur. Ich will mir nicht ausmalen, wie die Kandidaten die letzten Tage verbracht haben.

Noch eine gute Stunde bis zur Verkündung des Nobelpreises für Literatur. Ich will mir nicht ausmalen, wie die Kandidaten die letzten Tage verbracht haben. Seamus Heaney war damals, 1995, in Griechenland beim Wandern und konnte am ersten Tag nicht lokalisiert werden. Alle Welt wusste, dass er Nobelpreisträger war; nur er selbst nicht. Ich habe mich immer gefragt, ob er mit seiner Reise in die Offensive gegangen ist? Er selbst wollte es mir nicht verraten. Sechs Wochen vor dem Nobelpreis hatten Barbara Klemm und ich ihn in Dublin besucht und einen ganzen Tag mit ihm verbracht. Das war nicht besonders originell, nur vorausschauend. Der Nordirland-Konflikt entspannte sich, es war denkbar, dass die Schwedische Akademie dafür eine literarische Symbolfigur suchte. So profan sind die Überlegungen manchmal.

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Natürlich sind sie auch unendlich komplex. Etwa dazu, was literarische Bedeutung ausmacht. Wie sie sich literarisch äußert. Ob man eher das Abseitige und Verstiegene feiern soll oder das Zugängliche und Populäre. Beide Gedanken sind legitim. Beide haben ihre Befürworter, und die Entscheidungen der Akademie spiegeln es wider. Beide stehen (und fallen) mit dem konkreten Namen. Deshalb fand ich es vor Jahren, als der Name Bob Dylans zum erstenmal unter den Nobelpreiskandidaten auftauchte, völlig in Ordnung, ihn dort zu sehen. Jetzt, um 12:05 Uhr, sage ich mir: Es wäre toll, wenn Bob Dylan den Nobelpreis für Literatur erhielte. Ob die Mitglieder der Akademie sich schon einig sind? Gibt es schon lange Gesichter hier und Euphorie dort? Malt sich bereits jemand aus, wie die Weltöffentlichkeit reagieren wird? Und was würden die Fans denken, die schon Tickets für seine deutschen Tourneestationen im November haben?

Der Literaturnobelpreis sollte Literatur auszeichnen, aber niemand schreibt vor, dass sich die Literatur nicht singen lassen darf. Dylans Lyrik hat von Anfang an als Text beeindruckt, nicht nur als Song. Unter den vielen Menschen, die seine Musik nicht mögen, galt seine Stimme als das eigentliche Hindernis. Als er jung war, klang sie näselnd, nölig, nervig, insistent. Warum sie mir gefiel, keine Ahnung. Mein ältester Bruder hatte, als ich elf oder zwölf war, die ersten Dylan-Platten angeschleppt. Ich brauchte ein paar Wochen, um sie zu mögen. Danach war diese Stimme unantastbar.

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Wenn man auf mehr als fünfzig Jahre seiner Karriere zurückblickt (und der Nobelpreis ist eine Gelegenheit für Rückblicke), begreift man erst, dass die musikalischen und poetischen Wandlungen, die er durchgemacht hat, sein unentwegtes „Sich-selbst-Neuerfinden“, das längst zum Schlagwort geworden ist, das eigentliche Merkmal seines Talents sind. Seine Tiefen gehören zu ihm wie die Höhen, die Ausreißer wie die Geniestreiche, die Sackgassen ebenso wie die goldenen Boulevards des Ruhms. Und merkwürdig, tatsächlich höre ich immer mal wieder auch die schwächeren Songs, frage mich, wie er damit zufrieden sein konnte, warum er sie nicht zu Ende geschrieben hat und so weiter. Kein anderes Songwriter-Werk hat soviel schieres Material angehäuft, Texte und Musik umgewälzt, großzügig und achtlos Geniestreiche herausgeschleudert, so dass die Coverversionen mancher seiner Songs berühmter werden konnten als Dylans Original. Nur eben, dass Jahrzehnte später selbst ein dünnes Liedchen wie „Quinn, the Eskimo“, das durch Manfred Mann’s Earth Band ein Hit wurde, immer noch ein Dylan-Song bleibt. Weil er aus seiner Werkstatt kommt. Weil er ihn geschrieben hat. Nebenbei. Einfach so.

Ach ja. Kein anderer Singer-Songwriter hat derart unermüdlich auf der Bühne gestanden. Wo Dylan bis heute steht. Unglaublich. Unfassbar. Immer wieder vor Tausenden Menschen. Denen er sich nicht andient und nicht anbiedert, die es in Ordnung finden, dass er sein Ding macht und sonst nichts. Allein dafür verdient er Respekt. Es ist 12:23 Uhr. 

Bild zu: Ein halbes Jahrhundert Bob Dylan 

Noch einmal zur Literatur. Als ich sechzehn und siebzehn war, war ich in meiner Schulumgebung so ziemlich der Einzige, der Bob Dylan hörte (von meinem ältesten Bruder mal abgesehen). Was meine Freunde störte, begeisterte mich: Dylans Zehn-Minuten-Balladen. Seine schamlose Überfrachtung der Songstruktur mit Text. Es waren grelle Miniromane, die er dort erzählte, in „Lily, Rosemary, and the Jack of Hearts“, in „Idiot Wind“ oder „Sad-Eyed Lady of the Lowlands“. Und den langen Song hat er bis heute nicht aufgegeben. Bob Dylan hat einfach mehr zu erzählen als die anderen. Die Bilder fluten ihm durch den Kopf, die grandiosen lyrischen Zeilen, die seit langem sprichwörtlich gewordenen Refrains und losen poetischen Miniaturen. Dass ihn unzählige Millionen hören und das schon seit einem halben Jahrhundert, soll kein Argument sein, nicht heute, obwohl man damit kommen könnte. Es reicht, sich die Platten der sechziger Jahre anzuhören, Songs wie „To Ramona“, „The Lonesome Death of Hattie Carroll“, „One Too Many Mornings“ oder „Boots of Spanish Leather“. Ich schweige jetzt. Es ist 12:32 Uhr. Ich muss noch die Fotos hochladen.

                                                                                     [ Fotos : HOTF, AFP ]


14 Lesermeinungen

  1. Madrid sagt:

    Herzlichen Glückwunsch an...
    Herzlichen Glückwunsch an Tomas Tranströmer!

  2. pardel sagt:

    Schade! Ich hätte mich sehr...
    Schade! Ich hätte mich sehr für Bob gefreut. Vielleicht in zehn Jahren? Das Komittee ist ja nicht von der schnellen Sorte. Auf seine Ansprache wäre ich gespannt gewesen, gerade in der heutigen Zeit. Ich hätte es auch viel leichter, wenn ich wieder versucht hätte, mugabarru davon zu überzeugen, dass Bob Dylan GROSS ist. Noch glaubt er mir das nicht ganz, nicht wahr, mugabarru?
    Übrigens: Dieses Update von der FAZ-net, damit klappt es wohl noch immer nicht ganz, oder? Ständig treten bei meinem „letzten Request“ (¡¿?! – mein letzter Wunsch? Nicht einmal der soll klappen? Schreck laß‘ nach!) „leider“ Fehler auf. Angeblich immer nur ein Fehler (jeder nur ein Kreuz?), den könnte man Mal ausmerzen, den blöden Fehler, den.

  3. Dulcinea sagt:

    Wer ist Bob Dylan?...
    Wer ist Bob Dylan?

  4. Madrid sagt:

    <p>Liebe Kommentator(inn)en,...
    Liebe Kommentator(inn)en, da gab es noch mehr Kommentare, ich weiß. Auch von stefanmadrid. Ich habe ihn freigeschaltet, doch er ist noch nicht zu sehen. Und die Benachrichtigungen kommen auch nicht an. Die an mich, meine ich. Seien Sie sicher, dass ich darum kämpfe.

  5. pardel sagt:

    Dulcinea, bitte! Anna...
    Dulcinea, bitte! Anna Netrebkos war bei Bob Dylans Vorband (telonero) die Drummerin, die müssen Sie doch kennen!

  6. Madrid sagt:

    <p>Mal sind drei Fotos weg,...
    Mal sind drei Fotos weg, mal nur eins. Die Kommentare von stefanmadrid und molinero jedenfalls sind unauffindbar. Ich bitte um Vergebung. Fassen wir uns in Geduld. Ich selbst muss jetzt aus dem Haus und schaue heute abend wieder nach. Wenn Sie über Technologie nachdenken oder gar debattieren wollen, drüben bei Don Alphonso sieht es sehr lebhaft aus. Bleiben Sie Sanchos Esel treu.

  7. derast sagt:

    Anscheinend ist nun auch die...
    Anscheinend ist nun auch die Benachrichtigungsfunktion futsch – bisher erhielt ich ein E-mail, wenn ein neuer Eintrag kam …
    Aber zurück zum Thema: Dylan und der Nobelpreis – das wäre zu schön gewesen um wahr zu sein. Herr Ingendaay, Sie wissen doch sicher, dass Sie mit Ihrem Wunsch nicht allein sind – und Ihre Schilderung, dass Sie einer der wenigen waren, die mit 16 Dylan mochten, erstaunt mich. Ich bin nur ein paar Jahre älter und in meiner Pubertät (um 1970) war ich mit dieser Begeisterung nun gar nicht allein und sie hat dann (wie so vieles, das uns früh prägt) bis heute angehalten. Obwohl ich in der süddeutschen Provinz aufgewachsen bin. Aber vielleicht war ein katholisches Internat (wenn Wikipedia in diesem Punkt recht hat) dafür eine noch ungeeignetere Umgebung?

  8. Madrid sagt:

    Allen, die keine...
    Allen, die keine Benachrichtigung bekommen: Ich bekomme auch keine. Also werde ich regelmäßig nachsehen. Nun, derast, ich will mich ja nicht zu einer Sekte erklären. Ich will nur sagen: Mitte der siebziger Jahre, als Dylans Desire, Planet Waves und Before the Flood erschienen waren, da hatte niemand meiner Klassenkameraden diese Platten. Die meisten konnten auch nicht genug Englisch, um dem gewissen Mehrwert zu erkennen. Wenn Sie sich erinnern: Danach kamen Street Legal und Slow Train Coming, also der gefälligere bis religiöse Dylan, den ich in den achtziger Jahren auch nicht mehr so intensiv gehört habe. Er hatte seine Höhen und Tiefen.

  9. derast sagt:

    An PA 20:17
    Und ob ich mich...

    An PA 20:17
    Und ob ich mich erinnere. Blood on the tracks war noch der Hammer …. zu Slow train coming schweige ich.
    Das Buch zum Thema kennen Sie wahrscheinlich, ist eigentlich für alle Fans ein must: Greil Marcus „Bob Dylan. Writings 1968-2010“. Beim Lesen wurde mich die amerikanische Perspektive erstmals lebendig.

  10. stefanmadrid sagt:

    Na bitte, es ist nichts...
    Na bitte, es ist nichts verloren gegangen… hier eine sehr weithergeholte Assoziation: Nobelpreis, Tranströmer, Lyrik, Bob Dylan, Paul Auster, Tom McCarthy, TVE2, Retiropark, Paul Ingendaays FAZ-Blog. Gestern abend sah ich nämlich auf TVE2 einen lyrisch-lakonischen Film von Tom McCarthy, der die Begegnung eines alternden, verwitweten, introvertierten US-amerikanischen Professors mit einem von der Abschiebung bedrohten syrischen Jazzmusiker erzählt: „Ein Sommer in New York – The Visitor“.
    In dem Film – der mir alles in allem wirklich gefallen hat, weil er eine einfache und menschlich-wahre Geschichte ohne Kitsch oder Klischees erzählt, auch weil er ein sehr gelungenes Ende hat, was wirklich Seltenheitswert hat – ging es unter anderem darum, dass der Professor eine Art multikulturelles Erweckungserlebnis mit Buschtrommeln hat, immer wenn er in New York im Central Park oder in der Subway an einer Gruppe von Perkussionisten vorbeikommt. Er kann dann einfach seine Füsse und Hände nicht still halten, würde am liebsten mittrommeln, und verbringt immer öfter seine Mittagspausen in der Nähe der Buschtrommeln im Park, versonnen, in sich gekehrt, aber scheinbar geht ihm dabei langsam eine neue Erkenntnis auf oder er entdeckt etwas verloren Gegangenes in sich wieder und wundert sich sehr über sich selbst und seine Umwelt. Den Film und den Regisseur finde ich richtig gut, auch sein Regiedebut „The Station Agent“ war damals für mich eine kleine Offenbarung, freue mich schon richtig auf seinen neuen Film „Win Win“. https://www.imdb.com/name/nm0565336/#Director
    Von der lakonischen Stimmung und Erzählweise her erinnern mich Tom McCarthy’s Stories ein wenig an Texte von Paul Auster (den ich für einen grossen Gegenwartsautor halte, der allerdings für einen aussichtsreichen Nobelpreiskandidaten wahrscheinlich zu verschroben, subversiv, alternativ, punkig, surrealistisch und entertaining wäre).
    Anyhow, was mir bei den Sequenzen mit den Buschtrommeln wieder einfiel, war, dass es in Madrid bis vor ca. 2 Jahren eine beeindruckende Community gab, die sich jeden Abend am Monument Alfons XII. im Retiro versammelte und bis Sonnenuntergang trommelte was die Handflächen und Trommelfälle aushielten. Diese Community löste bei mir ähnliche Gefühle aus wie bei dem Professor in „Ein Sommer in New York“ – ich war absolut fasziniert und hing immer öfter in der Nähe dieser multikulturellen Trommelbanden herum, konnte die Füsse nicht still halten und fühlte dumpf von irgendwoher irgendwelche Urinstinkte emporsteigen, vor allem aber spürte ich gute Laune. Vielen Anwohnnern und Parkbesuchern war dieses permanente Happening überhaupt nicht geheuer, und dann wurde es, nachdem es jahrelang geduldet worden war, per Polizeiverordnung bei Androhung der Konfiszierung der Perksussionsinstrumente verboten, und das Verbot wurde absolut effizient durchgesetzt. Ich war darüber sehr traurig, obwohl mir klar war, dass die ziemlich viel Dreck gemacht und hinterlassen haben, auch dass da natürlich Drogen gehandelt und konsumiert wurden, und manchmal war das Trommeln auch nervig, man hörte sie bei geöffneten Fenstern bis zu unserer Wohnung herauf, aber für mich waren diese spontanen Trommelaktionen herz- und kopferfrischend und in ihrer Mischung aus Massenhypnose, Ekstase und rhythmischer Disziplin sehr stimulierend. Ich vermisse dies sehr, und es fiel mir bei dem Film vom Tom McCarthy wieder ein, wie sehr es mir eigentlich fehlt. Da dachte ich an Paul Ingendaays WG und fragte mich, ob es anderen Mitbewohnern wohl ähnlich ergangen ist.

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