Noch eine gute Stunde bis zur Verkündung des Nobelpreises für Literatur. Ich will mir nicht ausmalen, wie die Kandidaten die letzten Tage verbracht haben. Seamus Heaney war damals, 1995, in Griechenland beim Wandern und konnte am ersten Tag nicht lokalisiert werden. Alle Welt wusste, dass er Nobelpreisträger war; nur er selbst nicht. Ich habe mich immer gefragt, ob er mit seiner Reise in die Offensive gegangen ist? Er selbst wollte es mir nicht verraten. Sechs Wochen vor dem Nobelpreis hatten Barbara Klemm und ich ihn in Dublin besucht und einen ganzen Tag mit ihm verbracht. Das war nicht besonders originell, nur vorausschauend. Der Nordirland-Konflikt entspannte sich, es war denkbar, dass die Schwedische Akademie dafür eine literarische Symbolfigur suchte. So profan sind die Überlegungen manchmal.
Natürlich sind sie auch unendlich komplex. Etwa dazu, was literarische Bedeutung ausmacht. Wie sie sich literarisch äußert. Ob man eher das Abseitige und Verstiegene feiern soll oder das Zugängliche und Populäre. Beide Gedanken sind legitim. Beide haben ihre Befürworter, und die Entscheidungen der Akademie spiegeln es wider. Beide stehen (und fallen) mit dem konkreten Namen. Deshalb fand ich es vor Jahren, als der Name Bob Dylans zum erstenmal unter den Nobelpreiskandidaten auftauchte, völlig in Ordnung, ihn dort zu sehen. Jetzt, um 12:05 Uhr, sage ich mir: Es wäre toll, wenn Bob Dylan den Nobelpreis für Literatur erhielte. Ob die Mitglieder der Akademie sich schon einig sind? Gibt es schon lange Gesichter hier und Euphorie dort? Malt sich bereits jemand aus, wie die Weltöffentlichkeit reagieren wird? Und was würden die Fans denken, die schon Tickets für seine deutschen Tourneestationen im November haben?
Der Literaturnobelpreis sollte Literatur auszeichnen, aber niemand schreibt vor, dass sich die Literatur nicht singen lassen darf. Dylans Lyrik hat von Anfang an als Text beeindruckt, nicht nur als Song. Unter den vielen Menschen, die seine Musik nicht mögen, galt seine Stimme als das eigentliche Hindernis. Als er jung war, klang sie näselnd, nölig, nervig, insistent. Warum sie mir gefiel, keine Ahnung. Mein ältester Bruder hatte, als ich elf oder zwölf war, die ersten Dylan-Platten angeschleppt. Ich brauchte ein paar Wochen, um sie zu mögen. Danach war diese Stimme unantastbar.
Wenn man auf mehr als fünfzig Jahre seiner Karriere zurückblickt (und der Nobelpreis ist eine Gelegenheit für Rückblicke), begreift man erst, dass die musikalischen und poetischen Wandlungen, die er durchgemacht hat, sein unentwegtes „Sich-selbst-Neuerfinden“, das längst zum Schlagwort geworden ist, das eigentliche Merkmal seines Talents sind. Seine Tiefen gehören zu ihm wie die Höhen, die Ausreißer wie die Geniestreiche, die Sackgassen ebenso wie die goldenen Boulevards des Ruhms. Und merkwürdig, tatsächlich höre ich immer mal wieder auch die schwächeren Songs, frage mich, wie er damit zufrieden sein konnte, warum er sie nicht zu Ende geschrieben hat und so weiter. Kein anderes Songwriter-Werk hat soviel schieres Material angehäuft, Texte und Musik umgewälzt, großzügig und achtlos Geniestreiche herausgeschleudert, so dass die Coverversionen mancher seiner Songs berühmter werden konnten als Dylans Original. Nur eben, dass Jahrzehnte später selbst ein dünnes Liedchen wie „Quinn, the Eskimo“, das durch Manfred Mann’s Earth Band ein Hit wurde, immer noch ein Dylan-Song bleibt. Weil er aus seiner Werkstatt kommt. Weil er ihn geschrieben hat. Nebenbei. Einfach so.
Ach ja. Kein anderer Singer-Songwriter hat derart unermüdlich auf der Bühne gestanden. Wo Dylan bis heute steht. Unglaublich. Unfassbar. Immer wieder vor Tausenden Menschen. Denen er sich nicht andient und nicht anbiedert, die es in Ordnung finden, dass er sein Ding macht und sonst nichts. Allein dafür verdient er Respekt. Es ist 12:23 Uhr.
Noch einmal zur Literatur. Als ich sechzehn und siebzehn war, war ich in meiner Schulumgebung so ziemlich der Einzige, der Bob Dylan hörte (von meinem ältesten Bruder mal abgesehen). Was meine Freunde störte, begeisterte mich: Dylans Zehn-Minuten-Balladen. Seine schamlose Überfrachtung der Songstruktur mit Text. Es waren grelle Miniromane, die er dort erzählte, in „Lily, Rosemary, and the Jack of Hearts“, in „Idiot Wind“ oder „Sad-Eyed Lady of the Lowlands“. Und den langen Song hat er bis heute nicht aufgegeben. Bob Dylan hat einfach mehr zu erzählen als die anderen. Die Bilder fluten ihm durch den Kopf, die grandiosen lyrischen Zeilen, die seit langem sprichwörtlich gewordenen Refrains und losen poetischen Miniaturen. Dass ihn unzählige Millionen hören und das schon seit einem halben Jahrhundert, soll kein Argument sein, nicht heute, obwohl man damit kommen könnte. Es reicht, sich die Platten der sechziger Jahre anzuhören, Songs wie „To Ramona“, „The Lonesome Death of Hattie Carroll“, „One Too Many Mornings“ oder „Boots of Spanish Leather“. Ich schweige jetzt. Es ist 12:32 Uhr. Ich muss noch die Fotos hochladen.
[ Fotos : HOTF, AFP ]