Warum ich ausgerechnet Marc Aurel mitgenommen hatte, um mir den Flug von Madrid nach Zürich zu verkürzen, wusste ich selbst nicht, aber ich erfuhr es im Lauf der Stunden. Der Anlass war die Trauerfeier im Fraumünster für den Diogenes-Verleger Daniel Keel, der seine im September 2010 verstorbene Frau um 364 Tage überlebt hatte, nicht einen Tag mehr. Hin und wieder wird darauf hingewiesen, dass Marc Aurels in griechischer Sprache abgefasste Aufzeichnungen keine „Meditationen“ sind. Wörtlich müsste der Titel lauten: „Das an sich selbst Gerichtete“. Das war also das Thema. Was einer sich selbst sagt. Was einer zu sein sich vornimmt. Wie einer sich die Welt erklärt, sie formt, soweit er kann, und dabei möglichst wenig Zeit verliert. Und darin erkenne ich Daniel Keel, der mit seinem Geschäftspartner Rudolf C. Bettschart den Diogenes Verlag rund sechzig Jahre geführt hat. Zwei, drei Devisen reichten ihm, um einer der prägenden, erfolgreichsten Verleger der Nachkriegszeit zu werden: Kein Pathos drucken; nicht zu akademisch sein; und nie vergessen: Was sich erzählen lässt, lässt sich auch unterhaltsam erzählen.
Die Trauerfeier dauerte fast zwei Stunden, aber sie war kurz. Viele sprachen, auch Keels Sohn Philipp, zwischendurch gab es Musik, und über allem hing ein Gefühl von ehrlich gefühltem Abschied. Mehrere Diogenes-Autoren erzählten von ihren Erfahrungen mit Daniel Keel – Urs Widmer, Doris Dörrie, Leon de Winter. Aus Urs Widmers Rede habe ich es noch einmal ganz frisch: „kein Pathos“. Keine Schlagworte, keine bombastischen Weltentwürfe. Schön war Widmers Erinnerung, dass Keel gern der Jüngere war und sich in solchen Freundschaften – mit Dürrenmatt, mit Fellini – am wohlsten fühlte. Oder dass er die kleine Gruppe suchte und die große Gruppe mied. Er wollte keine Reden schwingen, laut wurde er ja sowieso nicht, im Gegenteil, man musste sich vorbeugen, um seine Flüsterstimme zu verstehen.
Ich weiß den Satz nicht mehr wörtlich, den Widmer von Keel zitierte, doch es gab wohl mal eine Gelegenheit, bei welcher der Verleger seinem Autor sagte, das Leben verfliege wie ein einziger Nachmittag. Als ich das hörte, dieses Bild, mit allem, was es aufruft – einen Tchechow-Nachmittag, einen Chandler-Nachmittag, ein sonnenbeschienenes Zimmer mit Diogenes-Büchern darin -, dachte ich wieder an Marc Aurel, der es ganz ähnlich ausgedrückt hat.
Und dann kam sie zurück, die Gedankenverbindung zwischen der Trauerfeier und den griechisch geschriebenen Notizen eines römischen Kaisers. Im Jahr 1997 war bei Diogenes ein Band erschienen mit dem Titel: Wie soll man leben? Anton Čechov liest Marc Aurel. Darin erzählt der Übersetzer Peter Urban (der Tschechow immer „Čechov“ schreibt und nicht findet, man dürfe es anders tun) von der Bedeutung des Buches für seinen Autor. Offenbar hatte Tschechow den Band der Selbstbetrachtungen immer in seiner Nähe in seinem Arbeitszimmer in Jalta, das Buch überstand alle Umzüge, möglicherweise handelte es sich dabei sogar um die erste – und keineswegs vollständige – Übersetzung ins Russische überhaupt. Urban erläutert all das in seinem erstaunlichen Vorwort. Tschechow jedenfalls hat viele der oft kurzen Einträge rot angestrichen und auf diese Weise rund ein Drittel des ganzen Buches markiert, und die Diogenes-Ausgabe bringt nun diese von Tchechow ausgewählten Marc-Aurel-Sentenzen in alphabetischer Ordnung (allzu weit ist es mit der thematischen Ordnung ja auch in der Originalausgabe nicht her), so dass man gleichsam Tschechows Marc-Aurel-Zitatenschatz in Händen hält, den Extrakt seiner persönlichen Lektüre.
Neben dieser habe ich noch zwei andere (vollständige) Marc-Aurel-Ausgaben: die jüngste Übersetzung ins Englische durch Gregory Hays bei Weidenfeld & Nicolson (2003), die eine lange, nützliche und klar geschriebene Einleitung enthält; und die Kindle-Ausgabe, welche den Übersetzer leider verschweigt, deren Text aber sicherlich bemoost bis steinalt ist, weil ein Satz aus Buch 1 zum Beispiel so klingt: „ Von Alexander, dem Grammatiker, lernte ich, wie man sich jeglicher Scheltworte enthalten und es ohne Vorwurf hinnehmen kann, was einem auf fehlerhafte, rohe oder plumpe Art vorgebracht wird; ebenso aber auch, wie man sich geschickt nur über das, was zu sagen not tut, auszulassen habe, sei’s in Form einer Antwort“ usw usw. Ich will es Marc Aurel nachtun und mich hier jeglicher Scheltworte enthalten.
Der flüchtigste Vergleich zwischen älteren und neuen Editionen zeigt, wie viel Eigenes die jeweiligen Übersetzer oder Herausgeber hinzutun und wie sie versuchen, den Text ihrer jeweiligen Zeit anzupassen. Buch 1 etwa handelt davon, welchen Personen Marc Aurel etwas verdankt und was. Die moderne Ausgabe des amerikanischen Altphilologen Gregory Hays überschreibt das Buch daher mit dem Titel „Debts and Lessons“. Punkt 9 wird unter die Überschrift „Sextus“ gestellt, und dann folgt, was der Autor ihm schuldet: „Kindness.“ Nur dieses eine Wort. Eines der sieben, acht schönsten Wörter der englischen Sprache. In der deutschen Ausgabe steht das so: „An Sextus konnt‘ ich lernen, was Herzensgüte sei.“
Kindness, Herzensgüte, die hatte Daniel Keel für seine Autoren bedingungslos. Er zeigte ihnen, was in ihnen steckte, er zeigte es ihnen oft und immer wieder, und mancher von ihnen erfuhr es von seinem Verleger lange, bevor er selbst daran zu glauben wagte.
[ Fotos : Sanchos Esel ]
Das Sonnenlicht zumindest...
Das Sonnenlicht zumindest bricht in der Tinte unendlich schöner als am Kindle mit seiner E-Ink. Nun bedarf das Schöne nicht des Lobes. Dennoch.
Ja, Dulcinea, aber ich kann...
Ja, Dulcinea, aber ich kann dem Sonnenlicht auf der E-Ink auch etwas abgewinnen. Pardel würde anmerken, es liege am Weißabgleich.
Das am Kindle sind nur...
Das am Kindle sind nur Schatten. Vielleicht der Vergangenheit.
Ich habe gelesen, dass es seit...
Ich habe gelesen, dass es seit kurzem auch Amazon.ES gibt. Das wird die Versandkosten fuer uns etwas reduzieren.
Aber nein, der Weißabgleich...
Aber nein, der Weißabgleich betrifft Fotos und Bildschirme, die man kalibrieren kann: Beim Kindle liegt es daran, dass das Gerät „nur“ 16 Graustufen darstellen kann. Immerhin nicht nur S/W, aber ich glaube nicht, dass man die Darstellung kalibrieren kann. Der leicht graue Hintergrund sieht aber nicht schlecht aus, und die Auflösung scheint mir ausreichend zu sein. Ich glaube, am Ende werde ich mir beides kaufen: Ein Tablet für’s Zeichnen und surfen (aber welches?), ein Kindle zum lesen. Gehe ich richtig in der Annahme, dass die etwas altert(h)ümliche Übersetzung umsonst ist? Kann man die Fonts ändern, oder werden sie als Grafik geladen und sind daher unveränderbar? Ändert sich der Zeilenumbruch richtig, wenn man die Schrift vergrössert?
Übrigens, zum Thema Bob Dylan: Wenn man sich die gestrigen Literaturseiten in der Druckausgabe der FAS anschaut, könnte man den Eindruck bekommen, dass es eine Bedingung ist, um als Schrifsteller zu gelten, schon in jungen Jahren eine möglichst hohe Stirn zu haben. Bei Schrifstellerinnen ist das anders. Bobs Haarpracht (etwas ergraut, aber ansonsten beneidenswert fürt sein Alter) erlaubt dann natürlich keinen Nobelpreis. Man kann nicht alles haben.
<p>Die Auflösung, pardel, ist...
Die Auflösung, pardel, ist sehr gut, das Bild auf dem Kindle ist gestochen scharf (anders als auf meinem Foto, auf welches sich der kleine Witz mit dem Weißabgleich bezog). Es gibt drei Fonts, wobei der erste (regular) die lockerer gesetzte Version des zweiten ist (condensed). Der dritte ist eine serifenlose Variante. Ich benutze „regular“. Die Schriftgröße lässt sich ohne Chaos mit zwei Klicks ändern. Ich lese inzwischen im Querformat, wie Sie auf dem Foto sehen können. Der alte Marc Aurel kostet viereinhalb Dollar, und die technische Qualität und die Einrichtung für den E-Reader sind anständig; manche kostenlosen Produkte sind so schlecht, dass sie einem den Spaß am Gerät verderben, andere wiederum sind gut. Man experimentiert ein wenig herum und findet das leicht heraus. Genaueres dazu erzähle ich auf dem vorherigen Blogeintrag.
Bis morgen!...
Bis morgen!
Ich bin gespannt....
Ich bin gespannt.
Das war ich auch. Und wurde...
Das war ich auch. Und wurde nicht enttäuscht.
Auch wegen (von mir empfundener) Parallelen in Bezug auf Biographie, Werte, Haltung und Spanienliebe waren die Erwartungen hoch. Nach der Lesung schätze ich Sie noch mehr. Vielen Dank.
Dass die Liebe zur Literatur und das Studium der Literatur sich nicht zwingend gegenseitig positiv beieinflussen, beschied mir bereits während einer Studienreise nach England ein Englisch- und Lateinisch-Lehrer meines uralten humanistischen Gymnasiums. Somit warnte er mich von einem entsprechenden Studium.
Und sorgte dafür, dass ich in Marko Theunissens Branche landete – wenn auch als Dozent und Lehrer (der hier nun gleich spricht ;-).
Ich stimme Ihnen vollkommen zu: Das Gut Versicherung ist ein erklärungsbedürftiges, immaterielles sowie sehr abstraktes Produkt und der mündige bzw. aufgeklärte Kunde nur ein Ideal. Die Deutungshoheit über die Risiken der Versicherungsnehmer und deren Versicherbarkeit liegt bei den Versicherern und deren Vermittlern. Somit muss der Kunde dem Vermittler vertrauen (können).
„‚Es gibt auf der Welt kein anderes seriöses Gewerbe mit so vielen unseriösen Mitarbeitern'“ Das sagt der Bezirksdirektor. Vielleicht sorgt Ihr Versicherungsvertreter nolens volens (im wörtlichen Sinne) dafür, dass die einen seriöser werden, die anderen wieder mehr vertrauen können.
Davon abgesehen lese ich einfach gerne in diesem Buch – und freue mich auf das angekündigte dritte – im Ausland und mit vielen Eskapaden…
Nochmals danke.
P.S.: Vielleicht war das münsterische Publikum gar nicht so schadenfroh. In Münster arbeiten etliche Menschen bei Versicherungen. Eventuell kannten sie einfach den Begriff des bestimmungswidrig ausgetretenen Leitungswassers…
Und was war nun vorgestern?...
Und was war nun vorgestern? Wenn die Frage erlaubt ist, und die letzten zwei Kommentare nicht, wie der Titel des Beitrags, an sich selbst gerichtet waren.