Sanchos Esel

Sanchos Esel

Spät essen, laut reden, wenig schlafen, kein Fahrrad haben, die Mülltrennung vergessen, dem berühmtesten Fußballverein der Welt zugucken, bei Rot

Niemand weiß, was jetzt kommt, aber es fängt schon mal komisch an

| 88 Lesermeinungen

Ich beneide politische Kommentatoren nicht gerade um ihre Aufgabe, Wahlergebnisse zu „analysieren".

Ich beneide politische Kommentatoren nicht gerade um ihre Aufgabe, Wahlergebnisse zu „analysieren“. Denn erstens müssen sie oft nur öffentlich verkünden, was wir auch ohne ihre Hilfe sehen („Herbe Verluste für die Sozialisten, wie die Grafik sehr schön zeigt“), zweitens sind nicht alle Wahlergebnisse leicht zu interpretieren, und drittens hechelt das Ganze doch ziemlich dem hinterher, was man nachträglich als „Willen des Volkes“ bezeichnet. Diesen Willen gibt es zunächst nur als Einzelwillen, im Kopf oder Herzen jedes einzelnen Wählers, jeder Wählerin. Erst in der Summe lässt sich etwas Kollektives daraus gewinnen beziehungsweise konstruieren. Oh, und viertens: Jahr für Jahr das Auf und Ab des Wählerwillens zu deuten käme mir ungefähr so sinnvoll vor wie, sagen wir, den Wasserpegel beim Gezeitenwechsel an der südspanischen Atlantikküste zu messen. Wichtig für jene, die es betrifft (Schwimmer, Surfer, Segler), aber ingesamt nicht so wahnsinnig transzendent. Das ist unfair, ich weiß, und genau die Empfindung, mit der Politologen nichts anfangen können. Doch Sanchos Esel kommt nicht aus seiner Eselshaut heraus.

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Nehmen wir jetzt mal die spanischen Wahlen. Die sind ausnahmsweise relativ leicht zu deuten. Der allgemeine Überdruss in Spanien hat die regierende PSOE aus dem Amt und von den Regierungsbänken gefegt. Die Sozialisten haben 4,4 Millionen Stimmen verloren, fast so viele, wie es in Spanien Arbeitslose gibt, wie El País mit kaum verhülltem Unmut anmerkte. Die gewaltige Stimmenzahl übersetzt sich in 59 verlorene Abgeordnete – von 169 auf 110. Es ist das schlechteste PSOE-Ergebnis in gut dreißig Jahren Demokratie. Die Konservativen, die das beste Ergebnis ihrer Geschichte vorweisen können, haben sich von 154 auf 186 Sitze gesteigert, aber dafür nur 600.000 Stimmen mehr benötigt, als sie vor knapp vier Jahren erhielten. Der Effekt dieser 600.000 Stimmen ist also gewaltig. Insgesamt muss man sagen, dass weniger von einem Erdrutschsieg der Konservativen gesprochen werden kann als von einer Erdrutschniederlage der Sozialisten. Deren frühere Stimmen sind nur zu rund fünfzehn Prozent zum direkten politischen Kontrahenten gewandert, der Rest landete bei den kleineren Parteien – den Nationalisten von CiU in Katalonien (16 statt 10 Sitze), Amaiur (erstmals dabei und mit 7 Sitzen gleich die stärkste Fraktion im Baskenland), dann natürlich bei Izquierda Unida (IU), die sich von 2 auf 11 Sitze steigerte, sowie bei der UPyD von Rosa Díez, die es von einem Abgeordneten auf fünf brachte.

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Dass die Stimmanteile sich auf diese Weise in Parlamentssitze umrechnen, liegt natürlich am Wahlrecht, das die großen Parteien begünstigt und für die kleineren eine hohe Barriere errichtet, bevor sie den ersten Sitz erreichen. Die Botschaft der spanischen Wähler scheint mir nicht nur zu sein, dass die PSOE zwecks Generalüberholung in die Opposition gehört (das Ergebnis ist eher ein Denkzettel für Zapatero als für Rubalcaba, der dem Untergang mutig entgegenmarschiert ist), sondern dass einer starken PP eine Fülle „kleinerer“ Interessen gegenüberstehen soll, seien sie nationalistisch oder stärker links oder auch stärker liberal. Die Aufgabe, die jetzt ansteht, hätte auch die PSOE zu lösen gehabt, und niemand wird Mariano Rajoy darum beneiden. Noch immer ist unklar, wo die neue Regierung den Rotstift ansetzen will und wer das Wirtschaftsressort leiten wird.

Sind die beiden großen Parteien austauschbar, wie das lustige Wahlplakat oben – fotografiert in der Nähe der alten Tabakfabrik in Madrid – zu suggerieren scheint? Das denn doch nicht. Aber es war bemerkenswert, dass keines der ideologisch umkämpften Themen, die Spanien fast in der gesamten Zapatero-Regierungszeit beschäftigt haben – Schwulenehe, Gesetz zur historischen Erinnerung, Antiterrorbekämpfung, Zurückdrängung des kirchlichen Einflusses in der Bildung -, im Wahlkampf irgendeine Rolle gespielt hat. Gestern sah ich unter den vielen PP-Fahnen vor der C/ Génova auch ein Transparent gegen die Liberalisierung der Abtreibung, doch Rajoy hat sich darum bemüht, dem harten Kern der Konservativen keine vorauseilenden Geschenke zu machen. Er weiß, dass er gewählt wurde, um für seine Wirtschaftspolitik vier Jahre geprügelt zu werden, nichts anderes.

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Ein Eindruck vor dem Fernseher war, dass die PP-Politikerinnen, wie sie dort auf dem Balkon des Hauptquartiers in der Calle Génova standen und winkten, durchgehend und flächendeckend scheußlich angezogen waren, und weil das für Spanien nicht typisch ist, wage ich einmal die Prognose, dass es als Vorgriff auf die mageren Jahre zu verstehen war: „Seht her“, sagte die kollektive Schmudel-Look-Geste, „das alles sind wir zu tun bereit, wir lassen selbst unsere schicken Klamotten beiseite, sparen am Friseur und ziehen uns an wie zum Jogging.“ Es wäre die klarste programmatische Aussage des Wahlkampfs gewesen.

Übrigens, das lustige Wahlkampfplakat. Die Fotografin erzählte, eine Stunde, nachdem sie es fotografiert habe, sei es weg gewesen. Abgerissen. Nahezu spurlos verschwunden. Es gibt sonderbare Dinge. Hat überhaupt einer jemals gedacht, die beiden Herren könnten Hand in Hand dem Sonnenaufgang entgegengegangen sein?

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                                                                                       [ Fotos : Sophie Caesar ]


88 Lesermeinungen

  1. Bettelbaron sagt:

    Mich interessiert etwas...
    Mich interessiert etwas anderes. Inwiefern sehen Sie Parallelen zwischen Amaiur und Sinn Fein (die Parallelisierung von ETA und IRA hatten wir ja zu genüge)? In Nordirland haben es ja ehemalige Terroristen oder zumindest öffentlich als Terroristen wahrgenommene Personen zu parlamentarischen Würden gebracht, und sich tatsächlich auch als respektable Parlamentarier etabliert. Ist über kurz oder lang etwas Vergleichbares auch in Spanien zu erwarten oder ticken die Uhren dort anders?
    Wenn ich an die quälenden Auseinandersetzungen über die Erinnerungs- und Versöhnungspolitik in Bezug auf Bürgerkrieg und Diktatur denke, dann erwarte ich auch bezüglich der politischen (insbesondere der parlamentarischen) Integration des baskischen Nationalismus eher schleppende Fortschritte.

  2. Madrid sagt:

    Bettelbaron, der Vergleich...
    Bettelbaron, der Vergleich zwischen den beiden Phänomenen hinkt in der Tat, unter anderem deshalb, weil sich in Nordirland tatsächlich zwei Armeen gegenüberstanden und die katholische Minderheit schwere Repressalien erlitten hat. Was den zweiten Teil Ihrer Vermutung angeht, sehe ich trotz der erwartbaren Länge und Zähigkeit dieses Prozesses eine Chance. Sollte der baskische Nationalismus sich allein auf parlamentarische Mittel verlegen, wird es irgendwann zur Entspannung kommen, auch wenn sich Rajoy in nächster Zeit nicht mit Amaiur an einen Tisch setzt. Ich fand es vernünftig, auf die ersten paar Wochen Gewaltfreiheit nicht zu reagieren. Es geht hier ja nicht um eine schnelle Belohnung für den Verzicht, Bomben zu legen. Die Ressentiments in den Köpfen werden lange bleiben, aber sobald die reale Terrorgefahr vorbei ist, werden die Positionen nur noch das sein: Positionen, die mit demokratischen Mitteln um Gefolgschaft werben.

  3. stefanmadrid sagt:

    Ein schöner Blogeintrag,...
    Ein schöner Blogeintrag, ironisch distanziert und menschlich teilnahmsvoll – und Sie arbeiten mit einer Fotografin mit einem sehr scharfen Auge zusammen, Paul Ingendaay. Die PP hat bei der Siegesfeier am Sonntag wohl leider nicht nur an Garderobe und Frisör für die Partei-Baronessen, sondern auch am DJ gespart: die absoluten Partykiller. Die TV-Satireshow „El Intermedio“ hat darauf reagiert und stellt eine ulkige Coverversion für den 80er Discohit Resisitiré (I will survive) ins Netz: „Resisitiré, para seguir viviendo / Soportaré, los años de gobierno del PePé / Aunque el recorte se transforme en un deporte / Resistiré resisitiré….“ https://www.lasexta.com/elintermedio/noticias/ver/aqui_tienes_la_letra_de__resistire/281953

  4. atorvil19 sagt:

    In meiner Meinung ist die...
    In meiner Meinung ist die Niederlage Zapatero zuzuschreiben, der Fall in den Abgrund ist aber RbCb in die Schuhe zu schieben. Die Kampagne ist ein reines Chaos gewesen, ohne ein echten Leitfaden… sie haben versucht den „Doberman“ der Rechten wieder zu beleben und Angst vor Mariano „Manostijeras“ (in Anspielung auf die von Rajoy vorzunehmende Sparmassnahmen) zu verbreiten. Die ganze Kampagne basierte auf dem Program der PP statt auf dem eigenen. Und man hat gesehen (vor allem in Castilla-La Mancha), dass Sparmassnahmen von den Spaniern als notwendig angesehen werden und nicht als etwas schlechtes.
    Der Grund für diese Hundsmiserablen Kampagne ist die gleiche wie für die hundsmiserablen Regierung die wir erleiden mussten: die niedrige Kapazität der Mitglieder der PSOE (Aido, Pajín, Blanco, etc.). Es ist nicht möglich, dass einer mit einen knappen Schulabschluss Minister wird. Das passiert nur in Spanien. Oder dass eine andere mit 30 Jahren als Ministerin ernannt wird, weil sie die Tochter eines andalusischen „Caciques“ ist und ein Parteioberhaupt ihr Pate ist….. Das passiert nur in Spanien. Die selben Leuten sitzen in der Führung der Partei und das kann nicht gut gehen, wie man gesehen hat.
    Der Vergleich mit der PP in der Hinsicht ist erschreckend….. alle haben nicht nur einen Universitätsabschluss, sondern haben auch eine ‚Oposición‘ bestanden (Soraya ist Abogada del Estado, Rajoy Registerführer, Gallardón Staatsanwalt, Cospedal ebenfalls Abogada del Estado sowie auch Arias Cañete und Pizarro, usw.)… ich weiss nicht ob sie ihre Arbeit besser machen werden (schlechter ist sehr schwer) aber zumindest ist Ihre Vorbereitung ziemlich besser…..
    Jetzt ist der Zeitpunkt des Sparens gekommen. Mal schauen, wie wir das aufnehmen. Experten meinen, dass diese Krise zwei Regierungen wegfegen wird. Eine ist schon weg, die andere soll in höchstens 4 Jahren folgen…. ich hoffe diese Prognose erweist sich als falsch, aber uns bleibt nur abzuwarten we es laufen wird, wenn die neue Regierung kurz vor Weihnachten ihre Arbeit aufnimmt.
    Bezüglich Amaiur kann ich nur meine „Hochachtung“ (Ironie) vor ein Gesetz ausprechen, dass eine Partei mit knapp 330.000 Stimmen im Baskenland 7 Sitze im Parlament erteilt, während eine Partei mit über eine Million Stimmen in ganz Spanien nur 5 Sitze im Parlament haben wird…. warum zählt die Stimme eines Basken mehr als meine (madrileño)? Irgendwas stimmt im System nicht. Aber nun gut, sie wurden legitim gewählt und nun sitzen sie in Madrid….. Sie haben jetzt eine Stimme und ich bin gespannt wie diese genutzt wird….

  5. HenryCharms sagt:

    Ich glaube, dass die absolute...
    Ich glaube, dass die absolute Mehrheit in der jetztigen Situation gar nicht so schlecht ist. So hat Rajoy zumindest keine Ausrede, dass er seine Plaene nicht umsetzten koenne. Ich fuerchte allerdings, dass wir in den naechsten Jahren immer noch hoeren werden „la culpa tiene Zapatero“, wenn sich die Wirtschaft nicht, wie erhofft und versprochen, erholt. Ich hoffe, dass ich mich taeusche und Rajoy ein Ass aus dem Aermel zieht, aber ich sehe nicht, dass die enorme Arbeitslosigkeit, die Verschuldung oder die hohen Zinsen einfach verschwinden, nur weil jetzt PP regiert.

  6. Madrid sagt:

    Nein, HenryCharms, das sehe...
    Nein, HenryCharms, das sehe ich auch nicht. Vorsichtige Schätzungen sehen locker die nächsten zehn Jahre unter dem Einfluss der Krise. Große Sparsamkeit ist gefragt.

  7. atorvil19 sagt:

    Rajoy hat bereits gesagt, dass...
    Rajoy hat bereits gesagt, dass keine Wunder zu erwarten sind, aber auch dass er mehr als nur eine halbe Stunde braucht…
    Er hat jetzt keine Ausreden, auch nicht die Schuld an ZP weiterzugeben. Er hat die Möglichkeit (endlich) den Wahn der Comunidades Autónomas zu regeln und das wäre ein riesiger Schritt in die richtige Richtung!! Die zwei, drei Regionen die immer meckern, werden wieder meckern, aber der Rest wird mitziehen (müssen).
    Ausreden braucht keiner mehr zu hören. Jetzt müssen nur noch Taten folgen und uns bleibt abzuwarten, dass diese auch in die richtige Richtung gehen.
    Beneiden tue ich Rajoy und seine zukünftige Regierungsgruppe um ihren Job nicht!!! 🙂

  8. HenryCharms sagt:

    Nein, atorvil19, beneiden tue...
    Nein, atorvil19, beneiden tue ich Rajoy auch nicht um den Job. Aber ich hatte den Eindruck, dass er ihn unbedingt haben wollte.
    Nochmal zurueck zu den unterschiedlichen Gewichten der Stimmen. Ich habe das Wahlrecht nicht gelesen und verstehe daher nicht, wie diese Ungleichgewichte zustande kommen. Koennen Sie, oder jemand anders, mich bitte darueber aufklaeren? Danke.

  9. StockMUC sagt:

    PI: "Vorsichtige Schätzungen...
    PI: „Vorsichtige Schätzungen sehen locker die nächsten zehn Jahre unter dem Einfluss der Krise.“
    Ist eine Krise, die zehn Jahre dauert, überhaupt noch eine Krise? Kann man von einem Patienten, der zehn Jahre auf der Intensivstation liegt, von einem Kranken sprechen?
    Vielleicht haben wir die Dimension dieser „Krise“ noch nicht erkannt. Ist sie nicht vielmehr ein Umbruch, eine Umwälzung? Ich bin gespannt wie Rajoy die „krise“ kommuniziert.

  10. Dulcinea sagt:

    Sie sind aber lustig,...
    Sie sind aber lustig, atorvil19! Das habe ich noch gar nicht bemerkt, daß wir bislang von Ungebildeten regiert worden sind.

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