Um mich seelisch auf den Hauptgewinn der spanischen Weihnachtslotterie einzustellen, ging ich neulich in das Madrider Viertel, in welchem eine Tippgemeinschaft letztes Jahr den gordo gewonnen hat. Ein Freund hatte mir erzählt, diesmal habe es die Richtigen getroffen, alles Leute mit wenig Geld, eine Gruppe von zwanzig bis fünfundzwanzig Menschen. Die meisten waren Stammgäste in einer schummerigen Bar, in der einige décimos des Hauptgewinns verkauft worden waren. Mein Freund sprach auch noch von der Inhaberin des Kiosks eine Straße weiter, die er gelegentlich sehe, auch sie sei unter den Gewinnern gewesen. Also ließ Sanchos Esel sich die Adresse des Kiosks geben, um der Dame einen Besuch abzustatten. Die Frage lautete: Hatte der Lotteriegewinn die Kioskbesitzerin verändert? Und was konnte mir der Inhaber der Bar erzählen? Mein Freund hatte gesagt, in den ersten Monaten nach dem Gewinn sei die Bar geschlossen gewesen, und im Frühjahr habe sie plötzlich wiedereröffnet: Aus der schummerigen Höhle sei eine helle, fast freundliche Bar geworden.
Tags darauf sah ich die Inhaberin des Kiosks. Ich sprach sogar mit ihr, als sie gerade zuschloss. Aber sie war sehr in Eile und wollte kaum stehenbleiben. Besonders glücklich sah sie nicht aus. Ich könne ja in den nächsten Tagen wiederkommen, wenn ich etwas wissen wolle, sagte sie. Aber ich hatte schon die Lust verloren. Nehmen wir an, sie hat mit ihrer Losbeteiligung im letzten Jahr 200.000 Euro gewonnen. Ihr Leben ist dadurch anscheinend nicht sehr verändert worden. Wie auch? Versuche ich es mal in der Bar, sagte ich mir.
Ich kam gerade zur Mittagszeit, die beste Stunde, um das Ambiente eines Lokals zu bestimmen. „Bodegas Huergeta“, so der Name, besteht aus einem einzigen Raum, der fast vollständig vom Tresen eingenommen wird, der ein großes Quadrat bildet, so dass man fast jemanden beiseiteschieben muss, um die hinten gelegenen Toiletten zu erreichen. Innerhalb des Quadrats stehen die Angestellten wie in einer Wagenburg, außerhalb die Essenden und Trinkenden. Als ich hereinkam, herrschte ein angenehm beiläufiges Sprechen und Murmeln, als hätten sich zwanzig gute Bekannte verabredet. Nur eine ältere Dame saß ganz rechts für sich, aß ein kleines Tellergericht und trank ein Glas Rotwein.
Die Bar gefiel mir. Ich bestellte Kaffee, ließ die Atmosphäre auf mich wirken und sprach ein paar Minuten später einen lebhaften jungen Mann neben mir an. Ob er letztes Jahr den gordo gewonnen habe, dessen Lose hier in der Bar verkauft worden seien?
„Nein, ich bin heute nur zufällig hier. Ich wohne in einem anderen Viertel.“
„Ah. Die Leute dieses Viertels haben damals zusammen getippt und den gordo gewonnen. Und viele von ihnen kennen sich aus dieser Bar.“
„Mal sehen“, sagte er, „ob ich diesmal Glück habe. Die Leute in dieser Bar gewinnen dieses Jahr nicht nochmal.“
„Nein, das werden sie wohl nicht.“
Ich fragte Natalia, die Bedienung, ob sie im letzten Jahr dabei gewesen sei, als der gordo gewonnen wurde.
„Nein, da habe ich noch nicht hier gearbeitet.“
„Das ist Pech.“
„Ja. Der neue Besitzer hat hier erst im April aufgemacht. Vorher gehörte die Bar einem anderen. Aber der hat sich mit seinem Gewinn aus dem Geschäft zurückgezogen.“
„Kann ich ihm nicht verdenken“, sagte ich. „Dann hat der neue Besitzer auch renoviert und alles?“
Natalia ließ den Blick mit einem gewissen Stolz über die hellen Wände schweifen. „Ja. Das sah vorher ganz anders aus.“
„Viel dunkler, hat man mir erzählt.“
„Ja“, sagte Natalia. „Das hatte einen ganz anderen Charakter.“
„Vielleicht klappt es ja dieses Jahr mit dem gordo.“
„Das wäre schön“, sagte sie.
Ich trank meinen Kaffee und dachte darüber nach, was 200.000 Euro im Leben bedeuten, kam aber nicht sehr weit. Dort, wo ich mit dem Nachdenken aufhörte, muss ich wohl gedacht haben, sie bedeuteten nicht so schrecklich viel. Ich sprach die alte Dame neben mir an, ob sie letztes Jahr am Hauptgewinn partizipiert habe. Sie schob ihren Teller beiseite und fing an, mir aus ihrem Leben zu erzählen.
Die alte Dame hieß Nora und kam aus Puerto Rico, wie sie sagte, hatte aber den größten Teil ihres Lebens in Madrid verbracht. Sie war Inhaberin der Drogerie und Parfümerie an der Ecke. Sie stehe aber nicht mehr hinter der Ladentheke, ihre Tochter kümmere sich jetzt um das Geschäft. Ob ich die Drogerie kennte?
„Nein“, sagte ich. „Ihre Drogerie kenne ich leider nicht.“
„Geh da mal vorbei, junger Mann, und grüß meine Tochter. Sag ihr, wir kennen uns aus der Bar.“
„Gern.“
„Wo waren wir?“
„Der gordo„, sagte ich. „Sie wollten mir vom gordo erzählen.“
„Der gordo! Ich sag dir was. Hier in dieser Tür wurde mir letztes Jahr ein Los angeboten. Und ich habe es ausgeschlagen! Die Siegernummer. Was habe ich mich geärgert. Manche Chancen kommen nur einmal im Leben. Das war meine.“
„Spielen Sie öfter?“
Sie legte mir die Hand auf den Arm. „Jede Woche“, flüsterte sie.
„Jede Woche … einen décimo? Zwanzig Euro?“
„Jede Woche“, sagte sie. „Seit fünfzig Jahren. Jeden Tag bete ich darum, dass ich gewinne.“
„Wann? Zu welcher Tageszeit?“
„Das Beten? Wann es sich ergibt. Aber mindestens morgens und abends. Ich zünde mir eine Kerze an und bete. Es vergeht kein Tag ohne Gebet.“
Wir plauderten noch ein wenig über ihre Enkel, die Königsfamilie und diesen Urdangarin. Nora war von den skandalösen Enthüllungen um den Schwiegersohn des Königs nicht sonderlich überrascht. Wir verabschiedeten uns und wünschten uns Glück.
Ich weiß nicht, welche Losnummer Nora bei der gestrigen Weihnachtslotterie hatte, aber wenn sie bei Doña Manolita gekauft haben sollte, könnte sie eine Kleinigkeit abbekommen haben. Natürlich nicht annähernd das, was sie in fünfzig Jahren für Lose ausgegeben hat. Das ist weg für immer. Tausend Euro pro Jahr, macht fünfzigtausend Euro in fünfzig Jahren, um es mal einfach zu halten. Doch was ist schon Geld? Nora sah gesund aus, die Wohnung ist bezahlt, und der Rowein schmeckt ihr auch noch. Das sind die wichtigen Sachen, sage ich mir. Hat Nora nicht allen Grund, eine Kerze anzuzünden?
[ Fotos : Sanchos Esel ]
Ein schöner Blogeintrag mal...
Ein schöner Blogeintrag mal wieder, Paul Ingendaay, danke. Mein Post dazu ist kein direkter Kommentar, ich bitte um Nachsicht. Zum Jahresende verlasse ich also Madrid. Habe ich hier in den 10 Jahren etwas gelernt? Spanische Kinder werden mit einer Stange Brot unter dem Arm geboren. Die aromatische Pinie spendet angenehm lange Schatten. In den meisten Madrider Bars könnte ich theoretisch im Trainingsanzug zum Frühstück kommen, ohne irgend jemandem aufzufallen. Ich kann ohne weiteres auf Butter, aber unmöglich auf Olivenöl verzichten. Ich weiss, an welchen Kiosken Madrids man die FAZ bekommt (dort, wo ich jetzt hinziehe, könnte ich sie mir druckfrisch in der Redaktion abholen, sogar inklusive Rhein-Main-Zeitung, aber wahrscheinlich werde ich in Deutschland öfter El País lesen als hier).
Verlasse Madrid, doch ist es nicht mehr das selbe, in das ich vor 10 Jahren zog. Die Modernisierung vollzieht sich schneller als meiner Meinung nach gut wäre. Was unter Alclade Gallardón gemacht wurde, mag vielleicht teilweise visionär sein und Madrid womöglich fit für die Konkurrenz der Städte der Zukunft machen, was weiß ich. Sympathisch ist es nicht, und es würgt mich in der Kehle, wenn ich sehe, welche Traditionen und (angeblich nicht konkurrenzfähigen) Kleingewerbe auf der Strecke bleiben. Als nächste sind die Kioske im Retiro an der Reihe, kleine, oft in mehreren Generationen geführte Familiengaststätten, die sich dem Druck der multinationalen Entertainmentketten nicht mehr gewachsen fühlen. Es gäbe aber schon soviele andere traurige Beispiele. Was den Stadtplanern offensichtlich gefällt, sind austauschbare Ausgehviertel wie Huertas und die plaza Santa Ana, die ein international standardisiertes, pseudo-exklusives Serviceangebot für den Massengeschmack des mitteleuropäischen Mittelklasse-Touristen bereithalten. Ein visionärer Erneuerer in dieser Dekade ist für mich dagegen ein Mann wie Ferran Adrià gewesen. Er ist ein Künstler, kein Schaumschläger, und er kocht nicht auch nur mit Wasser.
In Spanien gibt es – bei allen Tendenzen zum Apolitischen und zu Individualismus – Zivilgesellschaft, Solidarität und Common Sense, was sich bei besonderen Anlässen auf beeindruckende Weise manifestiert (in meiner Zeit hier: Massendemos gegen den Irakkrieg 2003 und gegen die Anschläge vom 11.März 2004, friedliche und farbenfrohe Besetzung der Puerta del Sol im Frühjahr 2011, ohne Eskalation, ohne Amoklauf, getragen von Sympathie in weiten Teilen der Bevölkerung).
Vor einigen Jahren war ich in den arragonesischen Pyrenäen und suchte Pilze. Stattdessen fand ich einen Philosophen, spanischer Heideggerianer, der ein guter Freund wurde (und mir seine geheimen Pilzwege zeigte).
Madrid: Adiós y ¡hasta siempre!, liebe WG: feliz navidad y un próspero año nuevo, Sanchos Esel: bitte lass‘ nicht nach, weiterhin so sympathisch und nachdrücklich zu „brüllen“. Vale.
<p>Danke. Wir vertrauen...
Danke. Wir vertrauen darauf, dass Sie uns nicht verlorengehen, stefanmadrid. Ánimo.
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Nora, meine alte Dame, hat mir etwas zu den Kiosken im Retiro erzählt. Sie sagt, sie gehörten „zur Hälfte der Königin“. Ist das nicht erstaunlich, auch als Phantasie? Viel unerfreulicher ist, dass die Betreiber der Kioske wohl von der Stadt ausgeplündert werden – viejomadrid.foro-activo.es/t706-adios-a-los-kioscos-del-retiro
Stefanmadrid, ich wünsche...
Stefanmadrid, ich wünsche Ihnen viel Glück für das nächste Kapitel Ihres Lebens. Un zum Abschied schenke ich Ihnen diesen schönen, strahlenden Winterhimmel von Madrid. Bei der 40-Watt Sonne in Deutschland werden Sie bestimmt öfter daran denken.
Virtudes, Sie sollten Davos besser vergessen. Da verlieren Sie doch. Ich an Ihrer Stelle würde Montecarlo versuchen….. Und dennoch muss ich darauf bestehen, dass Sie die Gewinne der spanischen Lotterie gefälligst in Spanien ausgeben. Sie wissen doch: wir haben ’ne dicke Krise……
Melibea, wenn Sie Tizón de Toledo adoptieren, dann schenke ich Ihnen Bambus und Bougainville für Ihre Terrasse. Und wenn nicht, dann wünsche ich Ihnen dennoch Glück und Erfolg in Ihrer neuen Stadt.
Herr Ingendaay, Dulcinea, HenryCharms, pardel, pastora-marcela und all den anderen … ich wünsche Ihnen ein Frohes Fest und alles Gute für 2012. Wir werden das Glück bestimmt brauchen.
Ich bin seit zwei Tagen in...
Ich bin seit zwei Tagen in Madrid. Da viele von Ihnen in der einen oder anderen Form eine enge Verbindung mit dieser Stadt haben, habe ich in diesen Tagen oft an die WG gedacht und mich auch geographisch ein „bisschen“ näher bei Ihnen gefühlt. Dieser Blogbeitrag hat mich etwas melancholisch eingestellt. Ich nehme natürlich die Stadt anders wahr, als diejenigen, die hier leben. Ihr Puls füllt mich mit Kraft für mein „ruhiges“ Leben in Deutschland, die nicht so angenehmen Seiten fallen mir nicht so schnell auf. Ich glaube aber, dass diese Melancholie nicht direkt mit Madrid zu tun hat, sondern mit etwas, was ich jedes Mal spüre, wenn ich wieder in Spanien bin: die Städte, das Land, sogar die Sprache, entwickeln sich in irgend eine Richtung und ich bin nicht mehr ein Teil davon, ein Teil, der in dieser Entwicklung aktiv mitmachen, den Alltag miterleben kann. Es ist ein komisches Gefühl der Entfremdung im eigenen Land.
Diese Melancholie hat natürlich nichts damit zu tun, dass wir nichts gewonnen haben. Noch ein Grund um es nächstes Jahr wieder zu versuchen. Mit oder ohne Gebet, es wird schon mal klappen. Und diese Melancholie wird mich aber bestimmt nicht davon abhalten, Gatamad, das wunderschöne Geschenk dieses strahlenden Himmels zu genießen. Ihnen allen herzlichen Dank für die tollen Momente in diesem Blog, weiterhin schöne Feiertage und alles Gute für das Jahr 2012!
Dafür bin ich in Deutschland,...
Dafür bin ich in Deutschland, liebe pastora-marcela, und ich sage Ihnen: hier ist es erst melancholisch! O Gott! Was ist es hier melancholisch! Aber ich halte durch. Ich kann sehr tapfer sein.
Pastora-marcela, die...
Pastora-marcela, die Entfremdung von der Sie erzählen kann ich Ihnen gut nachfühlen. Alle Menschen die mehrere Jahre in anderen Ländern leben oder gelebt haben, kennen dieses Gefühl. Es ist, als ob für den „Gewinn“ der neuen Erfahrung ein Preis gezahlt werden muss. Warum glauben Sie kehren so viele Gastarbeiter nach ihrer Pensionierung nicht zurück? Sie wissen, dass sie inzwischen Fremde im eigenen Land sind. Mugabarru erzählte dass seine Mutter sich als „Entwurzelte“ definiert. Vielleicht sollte man einfach zu dieser Zerissenheit stehen.
Schön zu wissen dass Sie in der Stadt sind. Vielleicht sind wir uns sogar über den Weg gelaufen. Ich mag diese Vorstellung.
Seien Sie tapfer, Dulcinea. Es gibt eine bestimmte Art von Liebe die durch die Distanz erst glänzender wird. Sehnsucht kann auch schön sein.
Ich wuensche allen...
Ich wuensche allen WG-Bewohnern, ob in Deutschland, Spanien oder anderswo, einen guten Rutsch in ein neues, wundervolles Jahr 2012.