Zu den Gründen, warum Madrid die höchstverschuldete Stadt in Spanien ist, zählt auch eine gigantische Baumaßnahme unter dem ehemaligen Bürgermeister Alberto Ruiz Gallardón zwischen 2004 und 2011. Die erste war die Verlegung von Teilen der Stadtautobahn M-30 in Tunnel, die Madrid mit 43 überdachten Autokilometern europaweit zur Tunnelweltmeisterin in städtischen Bereichen gemacht hat. Jeder, der während der Bauarbeiten die Stadt durchqueren musste, erinnert sich an das Chaos, den Dreck und den infernalischen Lärm.
Doch vom Zentrum Madrids bis weit in den Süden erstreckt sich ein Bereich, der durch das Verschwinden der Autobahn plötzlich frei wurde, und dort, auf einer Länge von mehr als sechs Kilometern, entstand das Projekt Madrid Río. Knapp gesagt, besteht es aus der Zurückgewinnung des Manzanares-Flusses, einer ehemals verdreckten Kloake, für die Freizeitnutzung der Bevölkerung. Und in der Tat kann man heute von der Glorieta de San Vicente aus, nahe dem Königspalast, friedlich am Fluss entlang nach Süden spazieren. Es gibt Parks, den Zugang zum Erholungsgebiet Casa de Campo, es gibt Spielplätze, Tischtennisplatten, Sportplätze für Fußball, Skate und Tennis, dreißig Kilometer neue Fahrradwege (die allerdings nicht ausschließlich für Fahrradfahrer da sind, sondern auch von Fußgängern benutzt werden können, was schon zu den ersten Konflikten geführt hat), grüne Wiesen, unendliche Sitzgelegenheiten zum Plaudern und Dösen (eigentlich ist der ganze Weg nach Süden eine einzige große Parkbank), und wenn man der Webseite der Stadt Glauben schenken darf, wurden auf gut 1,2 Millionen Quadratkilometern mehr als 33.000 neue Bäume gepflanzt und fast eine halbe Million Büsche gesetzt.
Der direkte Weg am Fluss entlang, vorbei am Stadion Vicente Calderón, nennt sich „Salón de pinos“, und dort stößt man Richtung Süden irgendwann auf die Möwen des Manzanares. Der Fluss führt nicht viel Wasser, im schwindenden Abendlicht wirkt die Oberfläche tiefgrau bis schwarz, man sieht Steine im Fluss schimmern, und die Möwen hängen eigentlich nur dort herum, wie Menschen es täten, wenn sie nicht zu arbeiten hätten. Ich bin schon ein paarmal dort gewesen und habe sie fotografiert. Als ich mir die Bilder zu Hause ansah, fand ich die Vögel plötzlich interessant.
Erst einmal, weil sie fix sind und man sie nicht so leicht ins Bild bekommt. Meine Versuche etwa, eine fliegende Möwe zu erwischen, haben zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen geführt. Sehen Sie hier:
Schön bleibt aber der blaue Himmel. Ich habe schon überlegt, ob ich der neuen Regierung nicht ein paar meiner Möwenbilder schicken soll, damit sie das PP-Emblem überarbeiten und es der Wirklichkeit anpassen kann. Haben wir nicht gerade gehört, dass Mariano Rajoy trotz gegenteiliger Versprechungen die Steuern erhöhen wird? Er erwartet Realismus von uns. Meinetwegen. Dann aber bitte auch in der Selbstdarstellung etwas näher an die Wirklichkeit heran! Zum Beispiel mit dem Bild unten. Die Möwen stehen herum, denken nach, träumen, vielleicht brabbelt die eine oder andere vor sich hin, ich konnte es nicht genau hören von meinem erhöhten Beobachtungspunkt aus. Jedenfalls schauen nicht alle in dieselbe Richtung, genau wie die Mitglieder des Ministerrats. Und ob sie alle in dieselbe Richtung fliegen, das wäre ohnehin eine andere Frage!
Betrachten wir das Foto einmal vom ästhetischen Gesichtspunkt aus. Die Spiegelung der Gebäude am Ufer färbt das Licht kupferbraun, schlammbraun, bronzefarben, und die Möwen ahnen gar nicht, wie schön das aussieht. Sie stehen beieinander und kommunizieren. Manche werden sich gleich säubern, das machen sie dauernd. Dann fliegen einige von ihnen auf und drehen eine Runde. Ich habe festgestellt, dass sie sich bei den anderen nicht abmelden. Das sind die Augenblicke, wenn es für den Fotografen schwierig wird, denn die Möwen kontrastieren nicht immer gut mit ihrer Umgebung. Dennoch ist es schön, so ein Foto zu haben. Möwen beim Abendtraining.
Manchmal sieht man den Hintergrund sogar viel besser, nur weil eine Möwe hindurchfliegt. Das war der Fall bei dem Burschen unten, der sich von der Gruppe getrennt hatte und auf eigene Faust losgezogen war.
Oft werden die Möwen auf den Fotos unscharf, weil sie für die Kamera von Sanchos Esel nicht stillhalten, wofür ich jedes Verständnis habe. Und die abrupten Richtungswechsel erst! Dennoch kann man auf vielen Bildern einen gewissen energischen Zug um die Schnabelwinkel entdecken, etwas Zielstrebiges, Unverbrüchliches, das mir wie die richtige Haltung für das Jahr 2012 erscheint. Dieses Charakteristikum werde ich in Zukunft noch intensiver untersuchen. Ich denke an eine möwenrelevante Gesichts- und Schnabelstudie. Ich bin froh, dass die Möwen nicht die Schulden bezahlen müssen, die die Stadt Madrid für die große Infrastrukturmaßnahme am Manzanares, ihrem Habitat, auf sich geladen hat. Darum wird sich Gallardóns Nachfolgerin Ana Botella kümmern.
Längst sehe ich in den Möwen auch keine Politiker mehr, sondern Menschen wie Sie, liebe Leserin, lieber Leser, und mich. Beim Auswerten meiner Bilder, am Computer, machte ich übrigens eine lustige Entdeckung. Zuerst sah ich die folgende Konfiguration:
Dann, auf dem nächsten Foto, erschien dies:
Wo war der Bursche rechts so schnell hergekommen? Es sind unberechenbare Tiere, diese Möwen. Immer in Bewegung. Das sollten wir auch sein, sobald wir uns am 1. Januar das Gefieder geputzt und abflugfertig gemacht haben. Offen, beweglich, entdeckungsfreudig. Und wenn Sie sich jetzt fragen, welcher strange bird Sie selbst sind und ob das Jahr 2012 Ihnen Niederstürze oder Höhenflüge bringt, harte oder weiche Landungen, dann werfen Sie einen Blick auf die drei Möwen unten. Ihre ausgezeichneten Flugfertigkeiten sieht man ihnen nicht an. Ein systematisches Understatement umgibt sie. Aber sie werden durchkommen, weil sie mit beiden Beinen im Leben stehen, den Überblick behalten und keine kalten Füße kriegen.
[ Fotos : Sanchos Esel ]
HenryCharms, sie haben in...
HenryCharms, sie haben in ihrer Schnabel-Aufzählung die Pfauen der Casa de Campo vergessen. Wenn Sie gegenüber der Puerta de San Vicente in die Casa de Campo spazieren, finden sich rechts die Gärtnerei-Anlagen. Und da stolzieren drei Pfauen auf und ab. Meist auf den niedrigen Dächern.
Bei dem ganzen hier genannten Federvieh, kann ich nicht verstehen warum es sich unter den Madrider Katzen noch nicht herumgesprochen hat, dass da so viel Fressen frei herum läuft.
Es gibt eben doch verschiedene Katzenleben. Einerseits sind da die fetten venetianischen Katzen die voller Selbst- und Fremdvertrauen auf den Gassen liegen, und sich überhaupt nicht aufschrecken lassen (ja, ich habe versucht sie aufzuscheuchen. Ohne Erfolg!!), dann die abgemagerten, höchst nervösen Katzen am Nil, die sich bemühen einen Fisch zu angeln, und dazwischen die Madrider Katzen, die scheinbar eine Beamtenseele haben, und sich lieber füttern lassen, statt Möwen, Reiher, Kormorane, Papageien, Krähen usw selbst zu jagen.
Vielleicht ist es auch nur eine Altersfrage. Alter macht bekanntlich ruhig. Tizón de Toledo, obwohl er genug Futter bekommt, klaut der Nachbarin den Serrano-Schinken aus ihrem gut verpackten Sandwich, hat eine angefangene, und ebenfalls geklaute, Thunfisch-Dose hinter der Waschmaschine versteckt, und unternimmt Ausflüge über Terrassen und Dächer der Nachbarschaft. Das Federvieh hat Glück, dass wir nicht so nah am Manzanares wohnen.
Darf ich ihn vorstellen? Hier war er noch eher Tiñosillo de Toledo, wie mein gemeiner Sohn bemerkte, da er Tizón de Toledo für viel zu prätentiös hielt, angesichts des Häufchen Elend, so „despeluchado“…. https://www.youtube.com/watch?v=K4_y4-qIu60. Ihn noch so zu zeigen war nicht unbedingt nach meinem Geschmack, doch meine Nachbarin meinte, dass wie alle eine Vergangenheit haben, und dass wir dazu stehen müssen. Hier mit seinen weissen Flecken: https://www.youtube.com/watch?v=AiN3kCLIABs&feature=related. Hier als vielversprechender junger Kater: https://www.youtube.com/watch?v=l_PA2KfK59I&feature=related. Und heute, in seiner ganzen, verspielten Pracht: https://www.youtube.com/watch?v=IzaFYWKSNEM&feature=related.
Ich bin wieder zu Hause. Es...
Ich bin wieder zu Hause. Es ist nicht einmal melancholisch, Dulcinea: es ist kalt, stürmisch, regnerisch und dunkel. Aber ich bin auch tapfer. Ich fand diesen Beitrag sehr schön, Herr Ingendaay. Es hat wieder etwas mit meinem Aufenthalt in Madrid zu tun, denn wir wohnten während dieser Zeit in der Gegend, etwa gegenüber dem Vicente Calderón Stadium (ganz zur Enttäuschung meines merengue-Sohnes, der lieber gegenüber einem ganz anderen Stadium gewohnt hätte…). Ich kannte die Gegend vor der „Verwandlung“ nicht, aber ich habe mich dort wohl gefüllt, obwohl die Straßen des Viertels nicht besonders gepflegt aussehen. Die Möwen fielen mir sofort auf, sie haben in mir etwas Vertrautes geweckt (nichts Politisches): Für jemanden wie mich, die bisher um diese Zeit immer an der Mittelmeerküste war, war es einfach schön festzustellen, dass Madrid im Winter genauso hell und der Himmel strahlend blau sein kann, dass Möwen auch dort leben können. Umso schöner fand ich Ihre Vorstellung, eine von ihnen zu „werden“.
P. S. Als „Entschädigung“ mussten wir das andere Stadium besichtigen…
Heute ist noche de Reyes. Ich...
Heute ist noche de Reyes. Ich will nur kurz eine hommage an die spanische Post schreiben. Die Tochter einer Bekannten hatte grosse Zweifel an der Existenz der Reyes Magos. Und da sie so ernst und beflissen ist, schrieb sie den Brief allein, steckte ihn, mit der entsprechenden Briefmarke versehen, in den Briefkasten. Danach verweigerte sie jede Auskunft über ihre Wünsche: sollten die Reyes wirklich existieren, wüssten sie auch was sie sich wünscht. Keiner konnte ihr etwas über ihre Wünsche entlocken. Doch vor drei Tagen öffnete der Vater den Briefkasten der Familie, und da lag der zurückgeschickte Brief des Mädchens. Sie hatte, ganz gewissenhaft, die Absenderadresse hingeschrieben, und die spanische Post sandte den Brief zurück. Er war an die Reyes Magos de Oriente adressiert, als Adresse stand lediglich Oriente, und in Klammern „no se el código postal“. Also wird sie, wie üblich, dieses Jahr drei der gewünschten Geschenke erhalten, und die Eltern danken der spanischen Post für die Verlängerung dieser kindlichen Phantasie.
Auch ich habe meine sauber geputzten Stiefel aufgestellt (da passt mehr rein als in einen normalen Schuh), und hoffe auf viele Geschenke und Glück für dieses Jahr.
Der WG wünsche ich auch viele schöne, unerhoffte Geschenke, und glückliche Zufälle.
Ihnen allen Gesundheit,...
Ihnen allen Gesundheit, Glück, Zufriedenheit, Erfolg und ferner ‚was Sie wollen vom neuen Jahr‘!
Ich wünsche mir Antworten auf eine etwas despektierliche Frage: Ist Antonio Muñoz Molinas „Die Nacht der Erinnerungen“ mehr als ein aufgemotztes „Beatus Ille“- oder kann man beide Werke gar nicht vergleichen?
Danke.
<p>Schon das Wort...
Schon das Wort „aufgemotzt“, SanMigueldelaCruzdelCampo, kommt mir nicht angemessen vor im Zusammenhang mit diesem Roman, der wirklich verdient, unter eigenen Bedingungen gelesen zu werden. Ich kenne sieben oder acht Bücher von Antonio Muñoz Molina, aber Beatus ille nicht; deshalb kann ich nicht vergleichen. Aber das Bürgerkriegsthema ist bei AMM nicht neu. Ich finde La noche de los tiempos einen klugen, spannenden und lange nachwirkenden Roman. Zu meiner Verwunderung ist er in der deutschen Presse wenig und eher mit gemischtem Ergebnis rezensiert worden. Aus irgendeinem geheimen Grund kommt dieser Autor in Deutschland nicht an. So etwas gibt es, eine Absicht steckt nicht dahinter. Ich weiß nicht, ob noch jemand den Roman kennt.
Ich danke Ihnen sehr für die...
Ich danke Ihnen sehr für die Antwort. Ich werde mich ans Werk machen. Da ich den Autor schätze, meinte ich das „aufgemotzt“ nicht böse. Natürlich ist das Buch auch nicht das erste über den Bürgerkrieg; viele las ich bereits. Und weil der Stapel der ungelesenen Bücher bei mir daheim schon nicht mehr Stapel genannt werden kann, bedurfte ich einer kleinen Entscheidungshilfe. Aber Sie hatten sich ja auch vorab schon positiv geäußert…
Ja, und über 50 Seiten zu...
Ja, und über 50 Seiten zu lang oder zu kurz reden wir hier nicht. Das ist sekundär. Ein alter Freund, der alles von AMM kennt, hat den Roman gerade ausgelesen und war begeistert. Kein Angehöriger der Kulturindustrie oder der Medienwelt, sondern einfach ein anspruchsvoller Romanleser. Ich bin gespannt, wie es Ihnen mit dem Buch ergeht.
Danke nochmals!...
Danke nochmals!