Offenbar gehen wir alle viel zu wenig in die freie Natur hinaus, um Ornithologie zu betreiben. Der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen hat angefangen, die Vögel im Central Park (nicht gerade freie Natur, aber immerhin) zu beobachten, und dann hat er gleich ein Buch darüber geschrieben. Wir machen es etwas bescheidener. Wir betrachten und fotografieren nur die Möwen in Madrid. Der Fluss, an dem sie sich herumtreiben, der Manzanares, ist noch nicht einmal ein richtiger Fluss. Natürlich kann man in seinem Quellgebiet im Madrider Norden wunderbar wandern. Aber dort, wo er zum Fluss wird, in der Hauptstadt, hat er wenig Grandeur. Immerhin ist sein Lauf jetzt viel sauberer und schöner als früher, und wenn man an Sonn- oder Feiertagen am Manzanares spaziergengeht, hat man den Eindruck, die Madrilenen hätten etwas zurückgewonnen, was sie lange, allzu lange vermissen mussten.
Als Sanchos Esel hier kürzlich von seinen Möwenbeobachtungen erzählte, meldeten sich einige, die von ähnlichen erbaulichen Erlebnissen berichteten. Von Kormoranen war die Rede, verschiedenen Reiherarten, Enten, Elstern, Krähen, Spechten, Papageien und sogar Pfauen. Dann kam Post vom niederländischen Maler Bart Koning, aus dessen Werk ich hier schon einmal eine Auswahl zeigen durfte – denken Sie an den Bonsai, den Teddybären, die Holzbänke, Karotten und Zitronen. Angehängt war diesmal eines seiner neuen Gemälde, das er mir nach der Lektüre des Möwen-Blogs vom Silvestertag unbedingt zeigen wollte, und nachdem ich nun seine Erlaubnis eingeholt habe, darf ich es auch Ihnen zeigen. Öl auf Leinwand, drei Meter lang und 1,20 Meter hoch. Titel: „A Trip Worth Taking“. Hier sehen Sie es. Und zum erstenmal habe ich das Gefühl, alle unseren Computerbildschirme seien lächerlich klein, um diese Welt abzubilden. Finden Sie nicht auch?
Nachdem ich mich lange in Konings herrliches Bild versenkt hatte, forschte ich etwas über die Möwenhaftigkeit der Welt nach und fand erstaunliche Dinge heraus. Einmal, dass die spanischen Konservativen ihr Möwen-Emblem in der Tat ziemlich modernisiert und dem heutigen App-Zeitalter angepasst haben. Von diesem Emblem –
– sind sie übergegangen zu diesem:
Ohne Mühe fand ich dann auch die Parodie darauf. Ein Spaßvogel hatte an der stilisierten Möwe des Partido Popular etwas herumgedrechselt, sie tiefergelegt und in ein völlig anderes Bild verwandelt. Sehen Sie hier:
Man kann also sagen: Jede Marke trägt schon ihre Antimarke in sich, den Protest, der sich der Simplifizierung widersetzt, erst recht einer so eindeutig werbekampagnenhaften Vereinfachung der politischen Botschaft, wie sie das Wappentier einer politischen Partei leisten muss. Ich sage „muss“, denn natürlich sind Politiker die ersten Opfer ihrer eigenen Versprechungen.
Doch auch in den Produkten des täglichen Lebens entdeckte ich Möwen, wo vorher Krokodile, Haie und Polopferde gewesen waren. Zum Beispiel diese hübsche Möwe auf einem Textil:
Dann dieselbe Möwe, überdimensioniert aufgenäht, gewissermaßen beim Flug im hellen Tageslicht:
Sodann dieselbe Möwe, wie sie in der hereinfallenden Dämmerung über einen Zaun oder dergleichen gleitet. Möwen haben es ja gut, lassen die Hindernisse unter und hinter sich, anders als wir.
Als ich meine kleidungsrelevanten Reflexionen abgeschlossen hatte, wandte ich mich den Büchern zu, wie ich es manchmal tue, wenn ich keine Antworten weiß und noch nicht einmal die Frage verstehe. Aber ich dachte diesmal nicht über den amerikanischen Bestseller Jonathan Livingstone Seagull von Richard Bach mit seinen obligatorischen Möwenfotos nach („Ultimately this is a fable about the importance of seeking a higher purpose in life“, heißt es beim amerikanischen Onlinebuchhändler, „even if your flock, tribe, or neighborhood finds your ambition threatening.“). Sondern über eines der größten Theaterstücke der Weltliteratur, welches heißt: Die Möwe. Von Anton Tschechow oder auch Čechov, je nach Geschmack und Überzeugung.
Sollten Sie Die Möwe noch nie gesehen oder gelesen haben, nehmen Sie es sich bitte unbedingt für dieses Jahr vor. Sie finden das Stück in vielen Ausgaben, entweder in der handlichen, schwerpunktmäßig möwenbezogenen Diogenes-Sammelausgabe, die Sie auf dem Foto oben sehen, übersetzt von dem hingebungsvollen, genauen und philologisch überaus leidenschaftlichen Peter Urban. Oder aber in einem kleinen Taschenbuch. Oder aber in der Tschechow-Bearbeitung von Thomas Brasch, die den russischen Originaltext deutlich verknappt und zuspitzt. Ob dem Autor das gefallen hätte, weiß ich nicht; aber hier darf ich verkünden, dass es mir gefällt. Nehmen Sie doch mal eine Leseprobe:
Sondern die …? Setzen wir doch selbst ein, was wir für richtig halten. Was glauben denn Sie, zum Beispiel? Was ist wichtiger als der Ruhm? Ich will Sie nicht auf die Folter spannen. Sie werden es wissen wollen. Also füge ich die Zeilen hinzu, die Ninas Rede, zwei Seiten vor Ende des Stücks, beschließen. (Sie hat dann noch eine, fast ebenso lange Rede, bevor sie geht, und auch die ist schön. Das nebenbei.) „Nicht der Ruhm ist wichtig“, sagt sie also, „sondern die Kraft, etwas auszuhalten. Seit ich meine Arbeit ernst nehme, tut mir alles, was mir geschehen ist, nicht mehr weh, und ich habe auch keine Angst mehr vor dem, was mir noch geschehen könnte.“
Ich muss hier keine offenen Türen einrennen, oder? Lesen Sie Tschechow. Abschließend von dieser Stelle, der bescheidenen Warte von Sanchos Esel, die Botschaft für das Restjahr 2012. Denken wir über unser Leben nach. Überlegen wir, was wir, hmm … besser machen könnten. Wie wir zu angenehmeren Menschen werden könnten. Oder wenn das schon nicht klappen sollte (denn es ist schwierig, take it from me), halten wir uns zumindest an die Anmut und Eleganz der Tiere. Wie wäre das? Ich rede hier nicht von Eseln wie mir. Ich rede von den Möwen, die, wie ich wohl gezeigt habe, in Handel, Design und bildender Kunst ein großes Jahr vor sich haben. Das Möwenjahr 2012.
[ Fotos : Bart Koning (1), Sanchos Esel (5-9), das Netz ]
Vor ein paar Jahren, um genau...
Vor ein paar Jahren, um genau zu sein in 2001, hatte ich das grosse Glueck Tschechow´s „Möwe“ im Central Park in New York sehen zu koennen. Und das nicht nur „für lau“, sondern auch noch in einer grossartigen Besetzung u.a. mit Maryl Streep, Kevin Kline, Christopher Walken, John Goodman, Natalie Portman, Marcia Gay Harden und Philip Seymour Hoffman. Man musste zwar fast eine Nacht fuer die Karten anstehen, was an und fuer sich schon ein Erlebnis war, aber es hat sich gelohnt.
https://www.nytimes.com/2001/08/13/theater/theater-review-streep-meets-chekhov-up-in-central-park.html
Es wird aber vielleicht Zeit sich dieses Stueck an anderer Stelle wieder anzuschauen.
Das Moewenbild finde ich grossartig. Ich Originalgroesse muss es phantastisch sein. Ist es irgendwo ausgestellt?
Darum beneide ich Sie,...
Darum beneide ich Sie, HenryCharms. Zu Konings Möwenbild kann ich nichts Näheres sagen. Ich weiß nur, dass es im November abgeschlossen wurde. Das lässt sich aber herausfinden, geben Sie mir ein wenig Zeit.
Geehrter Don Pablo,
Die...
Geehrter Don Pablo,
Die Textilmöwe könnte auch elegant über das chinesische Zeichen „tu“gleiten – und damit über Boden, Land, Erde, Zivilisation: alles mögliche Bedeutungen des Schriftzeichens. Vielleicht ist sie ja auch das Logo eines chinesischen Textilherstellers, ein Gutteil unserer Bekleidungen entstammt heutzutage schließlich in neokapitalistischer Umkehr europäischer Kolonisation diesem Zwitter aus Restkommunismus und Manchesterrenaissance – wie im übrigen auch das Gerät, auf dem ich dies in die virtuelle Tastatur touche…
Und so kann man also von den wunderbar entspannten Betrachtungen zum hochfliegenden Leben der eleganten, wenn auch gierigen (vgl. „Findet Nemo“: „Meins, meins, meins…“), Segler in die Niederungen der Wirtschaftsrealität abstürzen…
Aber das wollen wir ja nicht, lieber weiter Sanchos Esel bei seinen geistigen Höhenflügen lauschen. Noch lange weiter so, bitte,
Muchos saludos
Wipfl
Mein Dank, Wipfl, dass Sie...
Mein Dank, Wipfl, dass Sie meine Betrachtungen mit asiatischer Weisheit unterfüttern.
Zuviel der Ehre, Don Pablo,...
Zuviel der Ehre, Don Pablo, zur Weisheit reicht’s noch lange nicht, es handelt sich eher um die Früchte erratischer Beschäftigungen eines reisescheuen oberbayerischen Alpenbewohners, der sich die Welt eben in Gestalt fremder Sprachen ins Haus holt. Mein Spanisch ist leider etwas erodiert, aber zum Glück geht’s hier ja auch auf Deutsch.
Vielen Dank, Herr Ingendaay....
Vielen Dank, Herr Ingendaay. Ein wirklich schöner Beitrag. Ich muss tatsächlich wieder mal Tschechow lesen. Der ist bei mir in den letzten Jahren in Vergessenheit geraten. Mit ein paar kleinen, fast unbedeutenden Änderungen passt mir Ninas Rede wie massgeschneidert. „Nicht der Ruhm (Erfolg/Selbstverwirklichung) ist wichtig“, sagt sie also, „sondern die Kraft, etwas auszuhalten. Seit ich meine Arbeit (und mich selbst nur bedingt) ernst nehme, tut mir alles, was mir geschehen ist, nicht mehr weh, und ich habe auch keine Angst mehr vor dem, was mir noch geschehen könnte.“
Heute trank ich mit einem...
Heute trank ich mit einem lieben, alten Bekannten einige Gläser Wein. In der Bar lief im Fernseher die Übertragung der Wahl des Weltfussballers. (Gratuliere den culés im Blog). Und da kam die Erinnerung an Ronaldo (wie dick er jetzt ist), und Ronaldinho. Ich habe keine Ahnung von Fussball, kann mich aber dem Massenphänomen auch nicht entziehen. Aber so sehr Ronaldo als auch Ronaldinho sind mir in positiver Erinnerung: beide haben, für mich, immer die Freude an dem was sie taten (spielten) vermittelt. Und diese Freude kann CR7 nicht vermitteln. Deshalb werden auch mögliche Siege einfach nicht das gleiche sein. Nun ja, Messi kann nicht unbedingt als „alegría de la huerta“ eingestuft werden, aber es gibt doch eine gemeinschaftliche für Stimmung und Genuss.
Rubalcabas Nachtlied
Über...
Rubalcabas Nachtlied
Über allen wipfln
Ist Ruh,
Am Manzanares
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Popularmöwen geschäften im Bette.
Wart‘ nur, ich wette
Bald geschäftest du auch!
Danke für die poetische Gabe,...
Danke für die poetische Gabe, Dulcinea. Schöner kann man es nicht sagen.
Gatamad, Ihre...
Gatamad, Ihre Fußballbetrachtungen treffen ins Schwarze. Am Samstag im Stadion habe ich wieder gespürt, dass das Publikum diesen CR7 nicht mag. Zu recht! Und den wunderbaren Karim Benzema, den mögen sie. Er hat ja eine Weile gebraucht, sich zu finden, aber inzwischen weiß jeder, was für ein wunderbarer Spieler das ist. Denn er macht jeden besser, mit dem er spielt (während Cristiano an andere nicht denkt). Was Ronaldinho und den dicken Ronaldo betrifft, verdanken wir beiden wunderbare Szenen und Tore; dennoch haben sie mich kaltgelassen. Ronaldinho, weil er zu sehr Artist sein wollte, der dicke Ronaldo, weil er nur an seine eigene Torausbeute dachte, das hat der Mannschaft nicht gutgetan. Ein wenig trage ich ihm auch nach, dass er zum verfrühten Niedergang von Raúl beigetragen hat. Sie sehen, das sind komplexe Zusammenhänge. Erinnern Sie sich an Valerón von Depor? Der Mann hat mir durch seine Eleganz, seine Pässe und seine Spielintelligenz mehr ästhetisches Vergnügen verschafft als CR7 und der frühere Ronaldo zusammen. Dasselbe gilt für Guti. Ich kann doch meinen ästhetischen Empfindungen keine Vorschriften machen!