Nicht jedes Jubiläum muss begangen werden. Adolf Anderssens 200. Geburtstag wurde 2018 ignoriert, Emanuel Laskers 150. Geburtstag dafür umso häufiger zelebriert. Heuer ist es 150 Jahre her, seit im Kurhaus Baden-Baden das erste Weltklasseturnier der Schachgeschichte stattfand. Die Besten jener Zeit wirkten mit, Kolisch nicht als Spieler sondern Impressario. Anderssen siegte vor dem aufstrebenden Steinitz. Waren zuvor Zweikämpfe üblich, traf nun jeder zweimal auf jeden. Erstmals wurde die Bedenkzeit nicht mit Sand sondern Uhrwerken gemessen. Obwohl die Front des Deutsch-Französischen Kriegs ganz in der Nähe verlief, wurde das Turnier zu Ende gespielt. Ob und wie 1870 gedacht wird, wenn Carlsen, Caruana und Co über Ostern in Karlsruhe und Baden-Baden antreten, ist noch nicht bekannt. Derweil beginnen in Graz die Jubiläumsaktivitäten des Österreichischen Schachbunds. Der hat vor zehn Jahren einen Anlass verschlafen, der sich besser zum Feiern geeignet hätte. Weiterlesen →
Verschwende deine Jugend
1959 wurde in Hamburg der erste Jugendschachbund gegründet. Dem Schach ebnete er den Weg in den Hamburger Sportbund und damit zu Subventionen. 1970 folgte die Gründung der Deutschen Schachjugend (DSJ), die seitdem mit kargen, großteils selbst eingeworbenen Mitteln viel bewegt. Anstatt ihre bald fünfzigjährige Erfolgsgeschichte zu würdigen, will der Deutsche Schachbund (DSB) seine Kreativabteilung nun loswerden. Ein sportpolitisch einzigartiger Vorgang. Abgesehen vom Imageschaden wird das, angefangen mit dem Rauswurf des DSJ-Geschäftsführers, auch richtig teuer. Weiterlesen →
Schachspieler kriegen ja öfter nicht alles gleich mit
Wo ich in der Nacht war, in der die Mauer fiel, bin ich oft gefragt worden. In einem Schachcafé in Berlin. Das Belmont gibt es noch, Schach wird dort nicht mehr so viel gespielt wie vor dreißig Jahren. In der Nacht vom 9. November 1989 lief der Fernseher überm Tresen. Von meinem Brett, wahrscheinlich habe ich Blitzschach gespielt, konnte ich den Fernseher nicht hören aber sehen. Manchmal schaute ich hinüber, und jetzt kommt der Clou meiner oft erzählten Geschichte: die sich abwechselnden Nachrichtensprecher und das Gedrängel auf dem Bildschirm wirkten auf mich so unwirklich, dass ich eine ganze Zeit lang glaubte, dass da eine Satiresendung lief. Schachspieler kriegen ja öfter etwas nicht gleich mit. Es war etwa Mitternacht, als ich nach einer Partie näher zum Fernseher ging und endlich verstand. Kurz darauf saß ich mit anderen Gästen des Schachcafés in einem Auto zum damaligen Grenzübergang Bornholmer Straße. Wie sich der Mauerfall aufs Schach auswirkte, darüber bildeten sich damals rasch eindeutige Meinungen. Weiterlesen →
Magnus zeigt Format
Der Weltmeister kommt in großer Form zum Grenke Chess Classic, das am Karsamstag in Karlsruhe beginnt. Magnus Carlsen hat gerade im aserbaidschanischen Schamkir ein dem jung verstorbenen Wugar Gaschimow gewidmetes Weltklasseturnier überlegen gewonnen. Zwei Punkte Vorsprung hatte er dort nach den neun Runden. Vor allem überzeugte Carlsens Schach. Wie er seine Gegner in den letzten drei Runden jeweils mit einem positionellen Bauernopfer überspielte, zeugt von ganz großer Klasse und von endlich gefundener Weltmeisterform.
Weiterlesen →Der Sound eines sieglosen Matches
Fast plus zwei. So viel Vorteil zeigte der Computer für Carlsen während der zwölften Partie, nachdem sich Caruana in einem weiteren Offenen Sizilianer mit Weiß in eine unglückliche Aufstellung verrannt hatte. Nicht nur einmal sondern zweimal schlug die Bewertung des norwegischen Supercomputers Sesse auf fast zwei Bauerneinheiten zugunsten von Schwarz aus. „Mir egal“, schnauzte Carlsen. Er habe Druck machen wollen, ohne etwas zu riskieren. Auch am Ende noch stand er besser. Und hatte mehr Bedenkzeit. Ein Remis sei heute ein akzeptables Resultat gewesen, verteidigte er sich. Schließlich wird am Mittwoch im Stechen Schnellschach gespielt. Und das kann der Norweger. Da traut er sich noch zu, Caruana zu schlagen. Im klassischen Schach anscheinend nicht mehr. „Rest in peace, classical chess“, höhnte Alexander Grischtschuk, der die Partie auf Chess24 kommentierte: Ruhe in Frieden, klassisches Schach! Wenigstens war es die einzige nicht ausgekämpfte Partie, das einzige Angstremis des Wettkampfes.

Abtauschen, Abtauchen
Caruana war ahnungslos. Carlsen erfuhr es, unmittelbar bevor er den durch eine Glasscheibe vom Zuschauerraum verglasten Spielsaal betrat: Auf einmal stand Sergei Karjakin neben ihrem Brett. Der vorige WM-Herausforderer wurde nach Lodnon eingeflogen, um als Promigast den ersten Zug der elften Partie auszuführen. Dabei erlaubte sich der Russe ein Scherzchen. Statt dem e-Bauern, mit dem Carlsen eröffnen wollte, nahm er für die Fotografen den b-Bauern und stellte ihn nach b4. Carlsen und Caruana grinsten. Ihre Partie begann dann aber doch mit dem Königsbauern und zunächst einmal vielversprechend mit Rochaden auf entgegengesetzte Flügel. Elf Züge lang folgten sie einem Abspiel, in dem Karjakin schon einmal spektakulär gewonnen hatte. Doch die Vorfreude des Publikums währte nur kurz.

Einfacher für Schwarz – Robert Hübner zur zehnten Partie
Die zehnte Partie war meines Erachtens bisher die inhaltsreichste des Zweikampfes. Sie wurde von beiden Seiten mit feinem Stellungsgefühl gespielt. Obwohl seine vorige Weißpartie für Caruana zunächst verheißungsvoll verlief, wich er als erster von deren Zugfolge ab, um vorbereiteten Verbesserungen aus dem Wege zu gehen. Das Ergebnis seiner Bemühungen beeindruckt mich aber nicht: Schwarz konnte eine gefährliche Initiative aufbauen, und Weiß wurde in die Verteidigung gedrängt. Die Stellung befand sich wahrscheinlich in dynamischem Gleichgewicht, sie war jedoch für Schwarz einfacher zu spielen. Carlsen hatte einen gefährlichen Königsangriff, und Caruana musste sich sehr präzise verteidigen. In der Kürze der Zeit, die mir zur Analyse zur Verfügung stand, gelang es mir nicht die Feinheiten der Stellung genügend zu begreifen. Ich gebe nur einigen Anregungen zur eigenen Beschäftigung mit der Stellung.
Wer jetzt nicht nervös ist
Auch die zehnte WM-Partie endete remis, aber welch eine Kampfpartie! Beide Spieler nahmen große Risiken auf sich. Zwischenzeitlich gab es viele mögliche Abspiele, in denen Caruana entweder entscheidenden Materialvorteil bekommt oder aber von Carlsen mattgesetzt wird. Die Kommentatoren und das Publikum hatten ihren Spaß mit spektakulären Tricks, auf die freilich weder Caruana noch Carlsen hereinfiel. Auch Zeitnot war im Spiel. Und am Ende wieder mal ein Turmendspiel. Carlsen meinte hinterher, beide hätten jede Menge bessere Züge verpasst. Laut den Computeranalysen ließ aber keiner je einen klaren Vorteil aus.

Eine falsche Bewegung
Am Ruhetag ist die Schach-WM mit einem blauen Auge davon gekommen. Magnus Carlsen spielte mit Mitgliedern seines Teams und norwegischen Journalisten Käfigfußball fünf gegen fünf. Zwei oder drei Treffer hatte er gelandet, bevor er mit dem Fernsehreporter Emil Gukild zusammenstieß. Zum Glück waren beide nicht in vollem Lauf, als beim Kampf um den Ball ihre Köpfe ineinanderkrachten. Gukild musste genäht werden. Bei Carlsen reichten ein Kühlpack und ein Pflaster. Zur neunten Partie kam er schmerzfrei. Und erstmals holte er mit Weiß einen Vorteil aus der Eröffnung.

Flüchtige Beobachtungen von Robert Hübner
Man hörte Stimmen, die forderten, dass die Spieler „mehr riskieren“ müssten. Es ist jedoch nicht das Ziel der Teilnehmer an der Weltmeisterschaft, die Zuschauer möglichst wirksam zu unterhalten; sie sind damit befasst, das bestmögliche Resultat zu erzielen. Es scheint mir ein seltsamer Widerspruch, dass man einerseits Forderungen an die inhaltliche Gestaltung der Partien stellt – sie sollen „spannend“ sein – andererseits dem Wettkampfelement höchste Bedeutung beimisst. Wenn das Ergebnis das Wichtigste ist, muss man es den Spielern überlassen, wie sie ihr Ziel anzustreben gedenken; sie werden dies am besten wissen. Mit seiner scharfen Gangart in der achten Partie hat Caruana das Publikum sicher erfreut. Als er einen fühlbaren Vorteil hatte, spielte er zu zahm. Die richtige Angriffsfortsetzung war jedoch nicht einfach zu finden.
Einmal gezögert, dann war Caruanas Vorteil futsch
Das war der Tag, auf den viele gewartet haben. Als Fabiano Caruana seinen dritten Zug spielte, Bauer d2 nach d4, ging ein Raunen durch den Zuschauerraum. Der so genannte offene Sizilianer war auf dem Brett. Offene Schlacht. Ein Remis war nun weniger wahrscheinlich als in den Eröffnungen, die zuvor bei dieser WM zum Einsatz kamen.

Magnus freut es nicht
„Wie ich heute gespielt habe, hat mich überhaupt nicht begeistert“, sagte Magnus Carlsen nach dem siebten Remis. Insbesondere wie er darauf reagierte, nachdem Fabiano Caruana im zehnten Zug überraschend seine Dame zurückzog, sei „viel zu weich“ gewesen. „Das Match steht immer noch gleich, und mit Schwarz läuft es ja gut“, sprach er sich Mut zu. Selbstbewusstsein hört sich anders an. Was ist los mit dem Weltmeister? Ist er nicht bereit loszuschlagen, wenn sich eine Chance bietet? Er könne die Frage gerne auch in Analogie zum Fußball beantworten. „Das macht es nicht besser“, meinte Carlsen und drehte den Kopf weg. Nach 40 Zügen war ein weiteres Remis, diesmal durch dreimalige Stellungswiederholung, perfekt.

Und plötzlich Matt in 64
Wie gemein. Beide Spieler waren nach dem sechsten Remis in der sechsten Partie überzeugt, dass sie alles herausgeholt hatten. Aus einer anfangs öden Stellung hatte sich noch ein spannender Kampf ergeben. Einmal mehr in diesem Match war Schwarz am Drücker. Carlsen sah keine andere Möglichkeit mehr, als einen Springer herzugeben. Als ihn viele verloren glaubten, fand er eine Festung. Nach sechseinhalb Stunden klatschten die Fans dankbar. Dann zerstörte ein Reporter den Frieden: Kurz vor Schluss habe Sesse, ein an der Uni Tröndheim laufender Supercomputer, angezeigt, dass Caruana bei bestem Spiel von beiden Seiten in 64 Zügen matt setzen konnte. Ein sorgloser Königszug Carlsens hatte es möglich gemacht.

Ich will deinen Bauern nicht – nimm meinen!
Nach zwei ruhigeren Spielen brannte endlich das Brett. Schon im sechsten Zug bot Caruana ein Bauernopfer an, das sehr nach Kaffeehausschach aussah. Doch die Bombe blieb ohne Überraschungseffekt. Alexander Grischtschuk nannte es auf Chess24 naiv von Caruana zu glauben, dass Carlsen von 6. b4 überrascht werden könnte. Tatsächlich kannte Carlsen das Bauernopfer. Er gab den Bauern nicht nur wieder zurück sondern opferte gleich darauf selbst einen. Um die Initiative des Titelverteidigers zu bremsen, gab Caruana später zwei Bauern. Einen bekam er zurück, und nach Herstellen des Gleichgewichts wurde rasch Frieden geschlossen. Würden die Brexit-Verhandlungen so großzügig geführt, wie Carlsen und Caruana ihre fünfte WM-Partie anlegten, gäbe es längst einen Deal. Zum munteren Verlauf trug neben mehreren Wechseln des Materialverhältnisses ein Marsch des schwarzen Königs bis nach d3 und anschließend f5 bei. Falls der Konzeptkünstler Daniel Weil auch diese Partie vertont, sollte es etwas weniger eintönig klingen als die zweite Partie.
