Berührt, geführt

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Das Schachblog von FAZ.NET

Ein Fehler kommt selten allein. Außer bei Champions.

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Die olympischen Spiele sind vorbei, Medaillen vergeben. Was aber macht die großen Champions aus? Ist es nur das schneller laufen, höher springen, weiter werfen als andere? Manchmal, wie beim jamaikanischen Ausnahmesprinter Usain Bolt, mag das so sein. Häufiger aber entscheiden über die Medaillen nicht nur die physiologischen Voraussetzungen und unendliche Trainingsstunden, sondern auch mentale Stärke: volle Konzentration im entscheidenden Augenblick, produktiver Umgang mit Rückschlägen, Glauben an die eigenen Fähigkeiten.

Der Zehnkampf mit seiner Vielzahl an Disziplinen ist ein schönes Beispiel dafür. Jeder Athlet trifft im Lauf der zwei Wettkampftage auf einen Wettbewerb, in dem es nicht rund läuft, in dem er hinter den selbstgesteckten Zielen zurückbleibt. Selbst wenn er Ashton Eaton heißt und die Konkurrenz scheinbar nach Belieben dominiert. Was Champions wie Eaton von vielen Mitbewerbern unterscheidet, ist, wie sie sich am Rande des Scheiterns stehend zu Höchstleistungen aufschwingen.

Sicher zu Gold

Schauen wir uns den Stabhochsprung von Rio de Janeiro, die achte Disziplin des Zehnkampfes, näher an. Ashton Eaton, Weltmeister und Sieger der olympischen Spiele 2012, lag auch dieses Mal in Front, wurde aber from Franzosen Kévin Mayer, der sich in der Form seines Lebens befand, stark unter Druck gesetzt. Bei 4,90m, einen halben Meter unter Eatons persönlicher Bestleistung, reißt die Latte zweimal. Es droht ein Verlust von 90 Punkten gegenüber den 5,20m, die von Eaton unter normalen Umständen erwartet werden können. Im Zehnkampf ist das viel, sehr viel. Die Goldmedaille, die nach dem ersten Wettkampftag schon um Eatons Hals zu hängen schien, wäre auf einmal in großer Gefahr.

Dann aber bereitet er sich zum dritten Versuch vor. Man sieht in der Naheinstellung der Kamera, wie es unter den dunklen Augen in ihm rumort, wie er mit dem Stab in der Hand seine Kräfte bündelt, welche inneren Dämonen gebändigt werden. Eaton läuft an und lässt die Latte einen gefühlten Meter unter sich. Das Ganze wiederholt sich bei 5,10m. Wieder der dritte Versuch, wieder eine lange Konzentrationsphase vor dem Anlauf, wieder überspringt Eaton die Latte mit einem sicheren Sprung. 5,20m glückt dann im ersten Versuch; es bleibt seine beste Höhe an diesem Tag. Damit reicht es trotz einer mäßigen Weite im Speerwurf sicher zu Gold und olympischem Rekord (ex aequo mit Roman Šebrle, Athen 2004); auf Eatons Ausdauerqualitäten im abschließenden 1500m-Lauf ist Verlass.

Erst Vorteil, dann ein strategischer Fehler

In dieser Hinsicht ist der Unterschied zu vielen anderen Athleten bemerkenswert. Bleiben wir beim Hoch- und Stabhochsprung; mit Einschränkungen lässt sich das Bild auf andere Disziplinen übertragen. Häufig sieht man einen ordentlichen ersten Versuch, wo die Latte nur knapp reißt. Der zweite Versuch ist bereits schwächer und beim dritten Versuch geht alles schief: Timing und Absprung stimmen nicht und der Athlet springt mehr in die Latte als über sie hinweg. Das ist verständlich, weil das Vertrauen in die eigenen Kräfte mit jedem Misserfolg, jedem technischen Fehler abnimmt. Der Ärger über die eigenen Fehler und die Aussicht auf das mögliche Scheitern lähmen das eigene Denken, stören die Konzentration und führen letztendlich dazu, dass der Sportler unter seinen Möglichkeiten bleibt.

So übersprang zum Beispiel der deutsche Zehnkämpfer Kai Kazmirek, der einen hervorragenden vierten Platz belegte und seinen persönlichen Rekord einstellte, in Rio de Janeiro alle Höhen entweder im ersten Sprung oder gar nicht. Es mag Zufall gewesen sein, es mag aber auch mit jenen Faktoren zu tun haben. Auch bei anderen Athleten konnte man dieses Phänomen beobachten. Um so bewundernswerter ist es, wenn es Sportlern wie Eaton gelingt, eben jene Faktoren auszublenden und alle körperlichen und geistigen Kräfte in den Dienst des nächsten Sprunges zu stellen.

Ein nicht lange zurückliegendes Beispiel aus meinem eigenen Schaffen möge den Bezug zum Spiel auf den 64 Feldern verdeutlichen, auch wenn das Niveau weit von der Weltspitze entfernt ist. Ich spielte in einem Turnier in der Bretagne gegen den Internationalen Meister Sergej Grischtschenko aus Russland. Mit den weißen Steinen spielend kam ich schnell in Vorteil, beging dann aber einen strategischen Fehler und wir erreichten die Diagrammstellung:

[Sprenger, Jan – Grischtschenko, Sergej. Plancoët Open 2016, 6. Runde]

Schwarz hat hier bereits das bessere und vor allem einfachere Spiel. Weiß kann die Stellung bei genauem Spiel verteidigen, muss aber auf taktische Schläge entlang der f-Linie achten; auch das Bauernopfer d5-d4 mit Öffnung der langen Diagonalen ist manchmal möglich.

Grischtschenko bot mir mit seinem letzten Zug (21. …Db8-f8) die Punkteteilung an; er hatte nur noch zwei Minuten bis zum 40. Zug auf der Uhr, zuzüglich eines Bonus von 30 Sekunden pro Zug. Mir war noch eine halbe Stunde verblieben. Ich wusste, dass ich schlechter stand, vertraute aber in meine Fähigkeit die Stellung zu verteidigen und lehnte ab. Wer weiß, vielleicht würde mein Gegner in Zeitnot einen Fehler begehen, der mir Gewinnchancen eröffnen würde.

Allerdings war meine Konzentration durch Ärger über den vergebenen Vorteil herabgesetzt. Dies führte dazu, dass ich die neue und unangenehme Situation so schnell möglich loswerden wollte. Daher spielte ich schnell und oberflächlich, ohne die schwarzen Drohungen ausreichend zu ergründen. Die Zeitnot meines Gegners tat ein übriges, um mich aus meinem üblichen, eher langsamen Rhythmus zu bringen. Es folgte 22. De1-d2 Df8-f7 23.b2-b3? (richtig ist 23. Sf3-d4 um Figuren zu tauschen und das schwarze Angriffspotential zu vermindern) 23. …Ta8-f8 24. Ta1-e1? g6-g5!

Diesen taktischen Schlag, der den Angriff gegen den weißen König einleitet, hatte ich völlig übersehen. Hier setzte die Panik ein: wie war es möglich, dass ich eine derart natürlichen Zug, den ich mit Schwarz sicher sofort gefunden hätte, nicht vorausgesehen hatte? Wie kann man als Spieler meiner Spielstärke sich so simpel austricksen lassen? Wie einen solchen Fehler begehen?

Es folgten die erzwungenen Züge 25. h4xg5 h6xg5 26. Sf3xg5 Tf5xg5! 27. Lf4xg5 Df7-f3+ 28. Kg2-h2 (hier ist womöglich Kg2-h3 besser) 28. …Lc5xf2.

Schwarz hat nun unmittelbare Mattdrohungen gegen den weißen König. Weiß muss mit zweifachem Schlagen auf f2 Material zurückgeben, wonach ihm eine schwere Verteidigung im Endspiel bevorsteht. Dies war aber die einzige Chance. Stattdessen spielte ich 29. Lg5-f4?? und durfte nach 29. …Tf8-f5 mit unabwendbarem Matt aufgeben.

Ich hatte nur mit dem Schlagen auf e1 gerechnet, wonach Weiß in der Partie bleibt. Um im Bild zu bleiben: Ich hatte nach einem missglückten Sprung meine Konzentration nicht wiedergefunden, dachte mehr an die begangenen Fehler als an den nächsten Anlauf, und sprang bei den folgenden Versuchen voll in die Latte hinein.

Natürlich hat mein Versagen in der oben gezeigten Partiephase mehrere Ursachen. Eine von ihnen ist sicher, dass man in Zeitnot des Gegners dazu neigt, die Geduld zu verlieren, obwohl gerade dann höchste Disziplin geboten wäre. Wichtig ist aber auch und vor allem, dass man mit seinen eigenen Fehlern produktiv umgeht – dass man auch nach einem groben Versehen weiter so nachdenkt und spielt, als wäre nichts passiert, als würde man die Partie seines Lebens spielen. Nicht viele Schachspieler können das.

Es war übrigens meine einzige Verlustpartie in jenem Turnier; ich spielte ansonsten sicher und belegte einen durchaus guten dritten Platz. Grischtschenko aber, der das Turnier letztendlich gewann, hatte genau jene mentale Stärke gezeigt, die Champions auszeichnet. In unserer Partie war er schnell in Nachteil geraten, aber er brach nicht zusammen, konsolidierte sich und wartete auf seine Chance. Sie sollte kommen. Auch im Turnier ließ er sich durch ein Auftakt-Unentschieden gegen einen deutlich schwächeren Spieler nicht aus der Ruhe bringen. So gewinnt man Turniere, so gewinnt man Medaillen.


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