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Die verhängnisvolle Einstellung des Weltmeisters

| 9 Lesermeinungen

Das Unvorstellbare ist passiert. Nach acht Partien der Weltmeisterschaft liegt Titelverteidiger Magnus Carlsen, als großer Favorit ins Rennen gegangen, gegen seinen Herausforderer Sergei Karjakin in Rückstand. Dessen Spiel war weitgehend sicher und solide, aber selten machte er den Eindruck, den Weltmeister vor große Probleme stellen zu können. Selbst in den wenigen Situationen, in denen er in Vorteil gelangte, entschied er sich meistens für den sicheren Weg Richtung Remis anstelle des Spiels auf drei Ergebnisse.

Karjakin hat also eine disziplinerte, aber keine überragende Leistung gezeigt. Kein einziges Mal konnte er aus der Eröffnung oder dem Mittelspiel Druck auf den Weltmeister aufbauen. Wie kommt es, dass Carlsen dennoch ins Hintertreffen geraten ist?

Blickt Weltmeister Carlsen noch durch? (Foto: Max Avdeev for Agon Limited)Blickt Weltmeister Carlsen noch durch? (Foto: Max Avdeev for Agon Limited)

Verhängnisvolle Einstellung

Viele Kommentatoren sagen, dass Carlsen in der achten Partie das Risiko zu hoch geschraubt habe. Das ist aber nur ein Teil der Geschichte, und er verstellt den Blick auf einen anderen, wesentlicheren Teil. Dieser hat mit der Einstellung des Weltmeisters zu tun. Es begann bereits in der ersten Partie. Bei allem Respekt vor dem Verlassen ausgetretener Pfade: eine strategisch zweifelhafte Weißeröffnung wie der Trompowsky-Angriff mag als Überraschungswaffe angehen, in der ersten Partie ist diese Wahl aber ein Zeichen bemerkenswerter Selbstüberschätzung. Ja, Magnus Carlsen ist der beste Schachspieler des Planeten. Aber er ist nicht so gut, dass er sich gegen einen nur leicht schlechteren Konkurrenten alles erlauben könnte. Auch Carlsens betont herablassende und gleichgültige Antworten während der Pressekonferenzen und sein Herumlümmeln auf dem Podium zeugen weder von Respekt vor Gegner und Publikum noch von der Erkenntnis, dass sein Titel in diesem Match in Gefahr geraten könnte.

Diese Einstellung wurde ihm in der achten Partie zum Verhängnis. Carlsen traf mehrere fragwürdige Entscheidungen und spielte viel weniger gesunde, natürliche Züge als sonst. Es war Karjakins Vorsicht (19. …Dg5!) und einem Rechenfehler (37. …Da4!) zu verdanken, dass Carlsen nicht schon eher in Probleme geriet.

Aber der Krug geht so lange zum Brunnen bis er bricht. Als kurz vor dem Ende jeder starke Spieler den e-Bauern geopfert hätte (49. e5!), um den Läufer zu aktivieren und ausreichendes Gegenspiel zu erlangen, klammerte sich Carlsen an den überflüssigen, ja sogar hinderlichen Mehrbesitz. Mit kalkuliertem Risiko hatte das nichts mehr zu tun, es war der pure Wahnsinn. Glaubte er, von Karjakins mangelnder Chancenverwertung angestachelt, noch an einen möglichen Gewinn? War es mit seinem Ego nicht vereinbar, das Remis anzustreben? War ihm nicht klar, dass ihm ein Top-10-Spieler gegenüber saß und kein Patzer in einer Simultanvorstellung?

Karjakin bestrafte Carlsens selbstmörderische Aktion mit dem starken Zug 51. …h5!. Nach einem weiteren schwachen Zug Carlsens war die Partie sofort vorbei. Der Ball lag endlich im Tor – aber im falschen.

Kein Plan B?

Nach der Partie ertrug es der Weltmeister nicht, bis zum Beginn der Pressekonferenz zu warten. Dies passt ins Bild. Sein unreifes Auftreten abseits des Brettes gleicht seinem unausgeglichenen, ungeduldigen Spiel auf den 64 Feldern. Natürlich hat jeder Schachspieler schon einmal so verloren, wie Carlsen es in dieser achten Partie getan hat. Als Opfer der eigenen Verblendung, die jeglichen Gedanken an einen möglichen Partieverlust aussperrt. Aber in einem Weltmeisterschaftsmatch wüsste ich von keinem vergleichbaren Fall.

Carlsen hatte offenbar keinen Plan B für den Fall, das er das Match nicht dominiert und schnell in Führung geht. Nun muss er sogar mit einem selbstverschuldeten Rückstand zurechtkommen. Versagen ihm die Nerven und folgt ein schnelles 0:2? Oder kann er seine außerordentlichen Qualitäten gerade jetzt abrufen, da es um alles geht und nur noch vier Partien zu spielen sind? Wir werden es sehen.


9 Lesermeinungen

  1. MiLo sagt:

    Ausgezeichnete Analyse!
    Weiter so.

  2. Frank_Rademacher sagt:

    FAZ sollte über Schach viel mehr berichten
    Ich finde da macht FAZ einfach viel zu wenig. Schach ist durch das Internet, bei der man in Echtzeit die Partei verfolgen, nachspielen kann, sowas von interessant und spannend geworden, dass man kein Spiel mehr von Carlsen verpassen will.

  3. Kotanov sagt:

    Magnus Carlsen muß noch viel lernen
    Das Schachspielen hat er zweifelsohne gut gelernt, gewisse Anstandsregeln allerdings wohl weniger. Mag sein das er der zur Zeit beste Schachspieler ist, obwohl ich doch in gewisser Weise Zweifel hege. Wo er jedoch einen großen Nachholbedarf hat sind seine Verhaltensweisen und vor allen sein Auftreten und ein gewisser Respekt seinen Gegnern gegenüber. Leute wie er mit einer dermaßen großen Selbstüberschätzung und teilweise arroganten und lümmelhaften Verhalten sind auch meistens wieder tief gefallen. An diesen seinen negativen Eigenschaften sollte er schnellstens arbeiten, denn ansonsten geht er mit Sicherheit nur als der ehemalige Norweger, welcher mal Schachweltmeister war in die Geschichte ein wenn er nicht mehr die Nummer Eins ist.

  4. Cularius sagt:

    "Die verhängnisvolle Einstellung"
    Wenn man verliert, wird alles was man getan hat in Frage gestellt.
    Hätte MC auf Sicherheit gespielt, hätte die Analyse gelautet;
    WER NUR AUF SICHERHEIT SPIELT KANN NICHT GEWINNEN.
    Hätte MC bereitwillig Interviews gegeben und wäre allen mit großem Interesse begegnet, würde die Analyse so aussehen.
    MAGNUS SOLLTE MEHR AM BRETT ARBEITEN UND SICH NICHT ZU SEHR MIT DEN MEDIEN BESCHÄFTIGEN.
    Das gleiche auch für den Fußball, wenn gewonnen wird, war alles richtig!

  5. bmoelder sagt:

    Gut beobachtet ...
    aber: warum so spät? Dass Carlsen sich irgendwie „unreif“ verhält, ist ja nicht neu. (Und er ist ja nicht das erste Schachgenie, dem man das attestieren kann/konnte.) Seine Einstellung zum Spiel und zu seinen Gegnern können wir „kleine Lichter“ aber nicht beurteilen. Ob Trompowsky Zeichen einer gewissen Selbstüberschätzung ist, wage ich auch zu bezweifeln. Hätte er damit gewonnen, hätten alle gesagt: grandios.
    Was mich stört: das Verhalten, die (vermeintliche) Einstellung, all das ist lange bekannt bzw. beobachtbar. Das Bohei, das Carlsen selbst und andere um sich/ihn machen: lange bekannt. Erst wenn es mal nicht so klappt, erst wenn dieser immer noch sehr junge Mann mal einen Rückschlag einstecken muss, kommt das alles aufs Tablett. Ihn im Höhenflug zu kritisieren traut sich kaum einer, ist nicht opportun. Ihn im Sinkflug zu kritisieren, ist billig.
    Und nicht vergessen: noch vier Partien. Wenn er es schafft, ist er wieder unser aller Liebling.

  6. HF72 sagt:

    Ausgezeichnete Analyse?!
    Die Analyse zeugt von ungemein schlechter Beobachtung der Vorgänge und/oder Voreingenommenheit.

    Zur Pressekonferenz: Dass er nicht erschien, ist reiner Unsinn. Er erschien, wurde allein auf der Bühne gelassen, verlor die Geduld und ging. Das ist kein sehr feines Benehmen, aber es ist doch etwas völlig anderes, als der Artikel vorgibt.
    Zu Wettkampf/Einstellung: Bestimmt gibt es auch hier im Artikel zutreffende Kritikpunkte an Carlsen. Sicher ist er kein guter Verlierer und noch nicht perfekt in der Etikette. Aber die Analyse, die von Körpersprache und einzelnen Antworten darauf schließt, dass Carlsen die Sache und den Gegner gar nicht ernst oder für voll nimmt, greift erstaunlich weit zu kurz. Erstaunlich auch, dass ein Professor solche Kurzschlüsse als Analyse präsentiert. Wer Carlsen wirklich beobachtet und auch seine Entwicklung im Auge hat, der weiß, dass er äußerst ehrgeizig ist, aber die Sache total ernst nimmt. Auch vermag man kaum zu glauben, dass er Karjakin nich

  7. martinask sagt:

    Klasse, sehr treffend
    Der Stärkere soll gewinnen! Der Stärkere ist aber nicht zwangsläufig der stärkere Schachspieler, sondern diesmal vermutlich der, der seinen Charakter besser im Griff hat und Gefühle kontrollieren kann. Momentan wirkt Carlsen mitunter wie ein bockiges Kind, während der gleichaltrige Karjakin eine weitaus größere Reife ausstrahlt.

    Schach kann eine Lebensschule sein. Mit hohen Erwartungen, Enttäuschungen, dem eigenen Versagen umzugehen, kann stark machen. Ich wünsche Carlsen, dass er die Kurve kriegt und zu seinem fantastischen Schach zurückfindet.

  8. JohnColter sagt:

    Stimme zu, aber...
    Carlsen steht schon länger in dem Ruf, mit (bei ihm seltenen) Niederlagen schlecht umgehen zu können, was sich derzeit wohl bestätigt. Wiederum: läge er z.B. mit zwei Gewinnpartien vorne, würde sich (fast) niemand über sein spätpubertäres Auftreten erregen; man würde ihn als „erfrischend jung und locker“ loben. Sollte er doch noch den Titel behalten, wird der Lapsus auch schnell in Vergessenheit geraten. Schach ist insofern tatsächlich zur Sportart (!) geworden: der Erfolg relativiert alles.

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