Als in der zehnten Partie (hier nachspielen) Carlsen über seinen 20. Zug nachdenkt, erwarten alle, dass gleich die Hände geschüttelt werden zum Remis und Sergei Karjakin mit einem leichten Schwarzremis dem Weltmeistertitel einen großen Schritt näherkommt. Zögerlich und ungeschickt zieht Magnus Carlsen seinen angegriffenen Springer von f3 nach d2. Auch er hat gesehen, was er gerade mit dem Abtausch der Läufer auf e6 und Öffnung der f-Linie angerichtet hat. Doch anstatt in der Stellung unten, wie sich dank der mitlaufenden Computer schnell herumgesprochen hat, mit 20. … Sxf2+ 21. Kg2 (21. Kg1 Sh3+ 22. Kg2 Shf4+ 23. gxf4 Sxf4+ 24. Txf4 exf4 ist gut für Schwarz) 21. … Sh4+! 22. Kg1 (22. gxh4? Dg6+ und Schwarz gewinnt) 22. … Sh3+ 23. Kh1 Sf2+ ein Remis zu erzwingen, denkt Karjakin nicht mal eine Minute nach und zieht 20. … d5.

Carlsen hat mit dem Köningsbauern eröffnet, Spanisch mit 3. … Sf6 4. d3, und hier das selten gespielte 6. Lg5. Kein eröffnungstheoretisches Duell heute sondern einfach Schach.
Während Carlsen hier für seine nächsten beiden Züge 15. Lc4 und 16. Lb3 sieben Minuten überlegt, verbrät Karjakin geschlagene 44 Minuten für die naheliegenden Erwiderungen 15. … c6 und 16. … Sg6. Weil ihm diese Bedenkzeit fehlt, spielt er wenig später zu schnell.
Wenn Carlsen kämpfen will, muss er hier 19. Sd2 ziehen. Stattdessen tauscht er auf e6 die Läufer, wonach Karjakin, wie eingangs schon erwähnt, Remis erzwingen kann, es aber nicht sieht.
Mit 21. Dh5 (statt 21. f3) gibt Carlsen Karjakin noch eine zweite Chance, ein Zugwiederholungsremis zu erzwingen, nämlich 21. … Sxf2+ 22. Kg2 (22. Kg1? Dg5 23. Dxg5 Sh3+ 24. Kg2 Sxg5) 22. … Df7! (droht 23. … Sf4+ nebst 24. … Dxh5) 23. Kg1 Df6 (droht 24. … Dg5) 24. Kg2. Karjakin sieht auch das nicht.
Einiges hat sich abgetauscht. Dank des schwarzen Doppelbauern auf der e-Linie hat Weiß einen kleinen Vorteil. Carlsen hat gerade 26. Tfe1 gezogen und müsste nach 26. … Taf8 mit dem Turm zurück nach f1, weil 27. Te2 Sf4+ 28. gxf4 exf4, und falls der Springer zieht folgt die Bauerngaben 29. … f3+. Viel gewonnen hätte Karjakin allerdings nicht, da die Türme dem König im Weg stehen. Stattdessen zieht er 26. … h5, um zu verhindern, dass Weiß mit h4-h5 den Springer von g6 und damit der Deckung des Bauern e5 vertreibt, doch das überlässt Weiß das Feld g5.
Karjakin hat gerade seinen Springer von g6 nach h8 gezogen, um ihn auf das bessere Feld f7 zu manövrieren. Das ist für Carlsen der beste Moment, 34. d4 zu spielen.
Karjakin hat gerade mit 39. … Tg7 den angegriffenen Bauern auf g6 gedeckt, woraufhin Carlsen nun mit 40. b4 auch den schwarzen Damenflügel zu belagern beginnt.
Karjakin ist mit seinem König von g8 nach a7 gelaufen, um den Damenflügel besser zu verteidigen. In den nächsten zehn Zügen passiert wenig, außer dass die Bedenkzeit weniger wird und Weiß den optimalen Zeitpunkt sucht, um den b-Bauern vorzupreschen.
Wäre Weiß am Zug und spielte b4-b5 hält sich Schwarz nach cxb5, Txb5 Tc8. Doch Karjakin ist am Zug, und ein Zug, der nichts verdirbt, liegt nicht auf der Hand. Es ist praktisch Zugzwang. Nach 56. … Sh6 oder 56. … Tc8 kommt Weiß zwar zu g3-g4, doch verloren ist Schwarz nicht. Es wäre das kleinere Übel. Stattdessen zieht er 56. … Thh7?, und nach 57. b5! cxb5 58. Txb5 kann dieser schwarze Turm den weißen Springer nicht angreifen und damit den Turm auf b5 an dessen Verteidigung binden, so dass 59. Tb6 mit Eroberung des Bauern e6 folgen kann.
Weil 59. Tb6 nicht zu verhindern ist, versucht Karjakin hier 58. … d4 59. Tb6 Tc3.
Hier gewinnt 62.Txg6 prosaischer als Carlsens 62. Sd5 Txd3 63. Sxc7 Kb8 64. Sb5 Kc8 65. Txg6.
Ein norwegischer Großcomputer mit dem Programm Stockfish zeigt hier erst ein Matt in 51 Zügen an, dann sollen es auf einmal 35 Züge sein und kurz darauf 41 Züge. Jedenfalls ist klar, dass das Turmendspiel ab hier für Weiß leicht gewonnen ist. Karjakin zögert das Ende noch um wenig Züge hinaus, bis wirklich Schluss ist:
Nur Karjakin?
Wie andernorts zu lesen ist, hat auch Carlsen 20. … Sxf2+ nebst Sh4 nicht auf dem Schirm gehabt, hat er auf der PK hinterher wohl zu erkennen gegeben. Und wenn man ehrlich ist, dürfte das ohne Computer kaum jemand gesehen habe. Also nicht „nur Karjakin nicht“?
Kein Übersehen, sondern Fehleinschätzung
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Karjakin 20. …Sf2:+ nicht gesehen hat. Ich denke, dass er die Stellung nach 21. Kg1 Sh3+ 22. Kg2 Shf4+ usw. als langfristig gefährlich für Schwarz eingeschätzt hat. Wenn Weiß sich konsolidiert, kann er später besser stehen.
Natürlich ist die schwarze Stellung sehr in Ordnung, aber sie ist eben auch konkret. Vielleicht wollte Karjakin das Gleichgewicht nicht stören und das Remis anstreben. Im Endeffekt muss er eine minimal schlechtere Stellung verteidigen. Dass dies in Führung liegend schwierig ist, wissen wir seit Kasparow-Karpow; Sevilla 1987 (24. Partie). Damit wiederholt Karjakin letztlich die Fehler der fünften und achten Partie: mangelndes Vertrauen auf die eigene Intuition.
Sf2:+ einen Zug später (nach 21. Dh5) nicht zu spielen könnte hingegen wirklich ein Übersehen gewesen sein. Zum einen sind die Varianten komplizierter, zum anderen ist es schwierig einen Zug zu spielen, nachdem man ihn bei der vorigen Gelegenheit verworf
Immerhin ein Weltmeisterschaftskampf!
Die o. a. Kommentare und die Bewertung der 10. Partie durch den Autor wird bei vielen Lesern den Eindruck erwecken, als hätte der Herausforderer nicht viel gesehen, als er 20 Sf2: nicht gespielt hat, hierfür sorgt allein schon die reißerische Überschrift. Damit wird man den Akteuren nicht gerecht. Die Bewertung des Autors zu Kg1 (…ist gut für Schwarz) muss auf den Prüfstand, immerhin behält Weiß 2 Springer bei geschlossener Stellung und nur rechnerisch leichten Materialnachteil, m. E. der wahre Grund, warum Karjakin die Abwicklung vermieden hat- es wäre zuviel dynamisches Potential in der Stellung, die Carlsen unbedingt gewinnen muss. In Zug 21 sieht es dann anders aus.
Karjakin zog schnell und was er hinterher sagte, zeigt, dass er 20. … Sxf2+ nicht wirklich erfasst und bedacht hatte.
Die Variante, in der Weiß Turm und zwei Bauern für zwei Springer eintauscht, die ich für vorteilhaft für Schwarz halte und Sie auf den Prüfstand fordern, ist auch einen Zug später noch auf dem Brett: 21. … Sxf2+ 22. Kg2 Df7 23. Kg1 Dg5 24. De2 Sh3+ 25. Kg2 Shf4+ 26. gxf4 Sxf4+ 27. Txf4 usw.
Was wirklich los war:
Nach eigener Aussage hinterher hatte Karjakin 22.-Shf4+ (nebst 23.-Sgxf4+ oder auch umgekehrt) nicht gesehen!? Kaum zu glauben, aber in WM-Matches passieren derlei Blackouts, z.B. auch beim zweiten Match Anand-Carlsen („Doppelfehler“ in der sechsten Partie) oder – schon vor dem anschliessenden Skandal – bei Topalov-Kramnik: beide übersahen ein forciertes Matt für Topalov, später gewann Kramnik.
Carlsen sagte, dass er „im Fall des Falles“ zähneknirschend remis akzeptiert hätte („sonst stehst Du – Karjakin – besser“). Einige kibitzende und tweetende Grossmeister betrachteten die Stellung mit Turm und zwei Bauern gegen zwei Springer allerdings wie Jan Sprenger (noch kein Grossmeister) auch als zumindest „unklar“.