Wenn der größte Medienkonzern Frankreichs ins Spitzenschach einsteigt, lohnt es sich genauer hinzusehen. Wie bringen die Fernseh- und Multimediaprofis von Vivendi und seinen Tochterunternehmen Canal Plus und Dailymotion die Präsentation voran? Vorige Woche absolvierte die Weltspitze fünf Spieltage in einem Pariser Fernsehstudio. Da waren zwar keine Zuschauer zugelassen, aber dafür umso mehr Kameras im Spiel. Die entstandenen Bilder sind beeindruckend. Spannend war es auch. Nach seinem schwachen Auftritt in Stavanger in der Vorwoche hatte Magnus Carlsen Probleme mit dem Selbstvertrauen eingestanden, aber prognostiziert, dass er in Paris gut abschneiden werde: Schließlich stand zum Auftakt der mit insgesamt 1,2 Millionen Dollar dotierten Grand Chess Tour kein klassisches Schach mit langer Bedenkzeit sondern Schnellschach und Blitzschach auf dem Programm. Und dabei würde er ja nicht ins Grübeln kommen. Aber wir kamen beim Zuschauen ins Grübeln und zwar vor lauter Kommentatoren und Moderatoren. Warum werden die Akteure selbst so wenig zu Wort kommen gelassen?

Zwischen den zahlreichen Partien fingen die Kameras zwar ein, wie die zehn Großmeister miteinander plauderten. Auch Lennart Ootes hielt es auf zahlreichen Fotos für den exzellenten Fotostream fest. Aber da war keiner, der ihnen ein Mikro hinhielt. Interviewt wurde erst, wenn der Tag vorbei war. Und das auch nur sehr selektiv.

Die Grand Chess Tour hatte in ihrer Übertragung (hier archiviert) fünf Kommentatoren gleichzeitig im Einsatz, nämlich die vier Großmeister Yasser Seirawan, Maurice Ashley, Christian Chirila und Romain Edouard und die Großmeisterin Jovanka Houska. Sie konzentrierten sich auf einzelne Partien und bekamen zumindest während des Blitzturniers vieles, was sich an den anderen vier Brettern abspielte, gar nicht mit. Und das wurde dann auch nur kursorisch in den Zusammenfassungen aufgearbeitet. Um den Überblick zu behalten, musste man sich schon selbst durch die Partien klicken.
Canal Plus produzierte zwar ebenfalls tägliche Zusammenfassungen, die anscheinend nicht öffentlich zugänglich sind, griff dafür aber ganz überwiegend auf die Übertragungen der Grand Chess Tour zurück und baute eigene Kommentatoren und Moderatoren ein, statt die Spieler ausführlicher zu Wort kommen zu lassen. So wurden in Paris unzählige Chancen verpasst, die kleinen Dramen, dich sich an den Brettern abspielten, packend zu erzählen.

Da war zum Beispiel der Vorjahressieger Wesley So, der sich vor dem mitunter grellen Studiolicht mit einer Sonnenbrille schützte. Verlor er womöglich deshalb so oft den Durchblick? Da war Sergei Karjakins Meckern darüber, dass genau ein Spieler vor dem Blitzturnier nicht bereit war, das Schachfest für Kinder und Erwachsene zu besuchen, und die Erlaubnis bekam, im Hotel zu bleiben. Wer wohl? Natürlich Carlsen.

Und dann war da das spannende Rennen am Ende. Vor allem dank Vachier-Lagrave, der den Weltmeister in beiden direkten Blitzpartien schlug. Besonders wild war die zweite, vor der Carlsen mit einem Punkt Vorsprung führte. Im 17. Zug rückte er seinen Bauern nach c3 vor:
17. … b3
Autsch. Das geplante 18. Db5+ scheitert ja an 18. … Lc6 19. Dxb3 Lxa4 nebst Schlagen auf d1. Carlsen findet einen Weg, den Kampf fortzusetzen:
18. Sb4 axb4 19. a5
Auf 19. … Sbd7 20. cxb4 und einen Kampf gegen die Freibauern am Damenflügel ließ sich Vachier-Lagrave nicht ein:
19. … bxc3 20. axb6 c2 21. Td2 Dxb6 22. Ta3 0-0 23. Txb3 Da7 24. Ta3
Zugwiederholung? Remis? Nein, denn Carlsen hatte ja einen Punkt Vorsprung. Vachier-Lagrave wollte mit der Dame auch nicht zurückweichen und war sogar bereit, sie zu opfern:
24. … Dd4!? 25. Db3 Dxd2 26. Lxd2 c1D+ 27. Lxc1 Txc1+ 28. Sf1 Lxe4 usw.
Hier die ganze wilde Partie zum Nachspielen.
Carlsen schwächelte am abschließenden Blitzschachtag auch sonst. Selbst Nakamura und Grischtschuk bekamen noch Chancen auf Platz eins. Vor der letzten Runde war es aber Vachier-Lagrave, der Carlsen überholte. Der Franzose hatte Schwarz gegen den starken Blitzer Alexander Grischtschuk, während Carlsen mit Weiß auf So traf.

Carlsen gewann seine Partie erstaunlich schnell, während Vachier-Lagrave mit Grischtschuk, der im Falle eines eigenen Siegs Zweiter geworden wäre, remisierte. Im fälligen Stechen schlug Carlsen Vachier-Lagrave in einer spannenden ersten Partie und remisierte die zweite leicht.
Gut möglich, dass ihr Duell auch in den nächsten Tagen in der belgischen Stadt Leuven im Mittelpunkt steht. Dort steigt von Mittwoch bis Sonntag die zweite Station der später über Saint Louis und London führenden Grand Chess Tour (zur Liveübertragung). Wieder mit zahlreichen Kommentatoren, aber nicht in einem Fernsehstudio sondern dem prächtigen Rathaussaal. Carlsen, Vachier-Lagrave und So bekommen es dort mit sieben Weltklassekollegen zu tun, die in Paris nicht dabei waren und entsprechend frischer sein dürften.