Was die jüngsten Nachrichten aus London für das Schach bedeuten, ist noch kaum zu überblicken. Die Folgen könnten gewaltig sein. Das liegt vor allem an Deep Mind, dem Forschungsinstitut für Künstliche Intelligenz, das gerade die Schachszene aufmischt und an seinem Sitz am Pancras Square vorige Woche das London Chess Classic mit einem Fundraiser und der ersten Runde eröffnete. Das feuert Spekulationen an, dass Google bald richtig ins Schachsponsoring einsteigt.
Demis Hassabis, ein Londoner mit griechischen Eltern, war mit 13 Jahren hinter Judit Polgar weltweit der zweitbeste Spieler seines Alters. Dann gab er das Turnierschach auf und widmete sich rechtzeitig anderen Herausforderungen. Nach seiner Doktorarbeit in Künstlicher Intelligenz wäre ihm eine Universitätskarriere offengestanden. Hassabis gründete stattdessen 2010 ein privates Forschungsinstitut und scharte brilliante Köpfe um sich, um selbstlernende Computer für unterschiedliche Anwendungsgebiete zu entwickeln. Vor drei Jahren hat Alphabet Inc, die Holding hinter Google, Hassabis sein Institut für angeblich 400 Millionen Pfund abgekauft. Seine Leistungsfähigkeit bewies Deep Mind, als ihr Programm Alpha Go im März 2016 den Go-Weltmeister Lee Sedol überzeugend schlug.
Am Dienstag veröffentlichte Deep Mind ein Paper, das einiges über den Haufen wirft, was wir bisher über Schach zu wissen glaubten, und über das weltweit, so auch hier, berichtet wurde. Das von dem Londoner Institut als selbstlernend entwickelte Programm Alpha Zero schlug in einem nichtöffentlichen Wettkampf das dem Computerschachweltmeister Komodo kaum nachstehende Open Source-Programm Stockfish mit einem vernichtenden Ergebnis: Von 100 Partien gewann Alpha Zero 28, remisierte 72 und verlor keine einzige.
So einseitig das Ergebnis ausfällt, war es doch aus gleich drei Gründen kein faires Match: Alpha Zero lief auf spezieller Hardware. Die Zeitvorgabe von genau einer Minute pro Zug passte nicht zu Stockfishs Zeitmanagement. Stockfish ist auch nicht daraus ausgerichtet, ohne Eröffnungsbuch zu spielen. Alpha Zero konnte zwar ebensowenig auf Zugfolgen für den Partiebeginn zugreifen, ist aber ohnehin ganz auf Selbstlernen ausgerichtet. Laut seinen Entwicklern genügten dem Programm vier Stunden Auswertung von Großmeisterpartien und Spielen gegen sich selbst, um so stark zu werden. In ähnlicher Weise hat Alpha Zero Go trainiert und seinen gegen Lee Sedol siegreichen Vorgänger Alpha Go überholt und im auch als „japanisches Schach“ bezeichneten Shogi das führende Shogi-Programm Elmo besiegt.
Bisher glaubte man, dass zumindest im Schach und Shogi nur eine intelligente, aber massive Suche mit einem Alpha-Beta-Alogrithmus im Baum der möglichen Zugfolgen zu optimalen Ergebnissen führt. Statt diesem Brute-Force-Verfahren verwendet Alpha Go sogenannte Monte Carlo-Simulationen. Das wurde für Schach früher als unpassend verworfen, weil anders als etwa beim Backgammon, wo Programme solche Simulationen erfolgreich verwenden, keine Würfel im Spiel sind. Während Stockfish etwa siebzig Millionen Stellungen pro Sekunde bewertete, berechnete Alpha Zero nur vergleichsweise bescheidene 80 000 Stellungen pro Sekunde, also fast 900mal weniger, aber dafür auf schlauere Weise. Aus den zehn veröffentlichten Partien stechen einige Moment heraus. Auf folgenden weist Albert Silber in seinem bemerkenswerten Artikel hin:
Alpha Zero – Stockfish nach 20. … Kh8
Laut Silber kam das ebenfalls sehr starke Programm Houdini nicht einmal während einer Stunde Bedenkzeit auf den Zug 21. Lg5!! (mit der Drohung 22. Sf6). Dabei musste Alpha Zero vorhersehen, dass Weiss nach 21. … f5 22. Df4 Sc5 23. Le7 Sd3 24. Dd6 Sxe1 25. Txe1 fxe4 26. Lxe4 Tf5 27. Lh4 Lc4 28. g4 Td5 29. Lxd5 Lxd5 30. Te8+ Lg8 31. Lg3
also sage und schreibe zwanzig Halbzüge später trotz Figur und Bauer weniger und reduziertem Material auf Gewinn stehen würde, weil Schwarz seine Figuren nicht ohne Verluste ins Spiel bringen kann und der wichtige Punkt g7 von allen drei weißen Figuren angegriffen, aber von Schwarz nur zweimal verteidigt werden kann. Science Fiction lautete die Assoziation des spanischen Großmeisters Paco Vallejo, als er folgende Damenzüge sah. AlphaZero, der mit Weiß eine Figur geopfert hatte,
manövrierte nun mit 25. Dh4+ Kg6 26. Dh1 seine Dame in die Ecke – und gewann auch diese Partie!
Andere Großmeister, die diese Partien nachspielten, verglichen Alpha Zeros Spiel mit einem Super-Karpow, der das gegnerische Spiel einschnürt, selbst unter Materialopfern, lange bevor der Gegner begreifen kann, was ihm geschieht. (Update:) Auch einige deutsche Großmeister haben sich inzwischen zu Wort gemeldet. Der anfängliche Enthusiasmus ist wegen der ungleichen Matchbedingungen und weil noch viele Details fehlen abgeebbt. Die in London versammelte Weltspitze zeigte sich am Tag nach der Vorabveröffentlichung aber mächtig beeindruckt.
Und vielleicht auch inspiriert. Nachdem die ersten drei Runden des abschließenden Turniers der Grand Chess Tour an allen fünf Brettern jeweils nur Remis produziert hatten, hatte ab Dienstag wenigstens jeden Tag eine Partie einen Sieger und am Samstag waren es sogar drei, weil Vishy Anand, Mickey Adams und Sergei Karjakin offenbar Müdigkeitserscheinungen zeigten. Bis Runde fünf einschließlich kam nur Fabiano Caruana zu vollen Punkten. Der Amerikaner, der das Jahr knapp auf den Fersen von Weltmeister Carlsen begonnen und seitdem nach und nach Elopunkte verloren hatte, hat sich damit wieder als einer der Favoriten fürs Kandidatenturnier im März in Berlin (die anderen Kandidaten Aronjan und So liegen bei 4 Punkten aus 8 Spielen, Karjakin bei 3 Punkten) ins Gespräch gebracht. Hier können alle bisherigen Partien nachgespielt werden.
Carlsen konnte dieses Jahr nur im Schnellschach und beim Open aus der Isle of Man überzeugen. In London läuft der Norweger wieder seiner Form hinterher. In Runde sechs wurde er von Hikaru Nakamura auf bemerkenswerte Weise überspielt. Statt endlich seine Leichtfiguren zu entwickeln, stürmte der Weiß spielende Amerikaner hier im Stil von Alpha Zero
Nakamura – Carlsen nach 12. a4
gerade mit a2-a4 voran und opferte nach 12. … d5 mit 13. a5! Sxc4 14. b3 Lb4+ 15. Kf2 neben zwei Bauern auch die Rochade, weil er nach 15. … Sxa5 16. Ld2! sein Material vorteilhaft zurückbekam. Mit knapper Not rettete Carlsen sein sechstes Remis in diesem Turnier. Tags darauf verkehrte er mit Weiß gegen den nominell schwächsten Teilnehmer, den Engländer Mickey Adams, am Rande einer Niederlage. Dann drehte der Norweger diese Partie aber noch. (Update:) Am Sonntag aber patzte er gegen seinen Angstgegner Jan Nepomnjaschtschi hier
Carlsen – Nepomnjschtschi nach 36. Dc6
mit 36. Df3-c6, weil er dachte, eine gerade geschlagene Figur so unter günstigeren Umständen zurückzubekommen als nach 36. cxb6 Dxb6. Sehen Sie, an welchem schwarzen Zug das scheiterte?
Carlsen verlor, so dass der Russe mit seinem dritten Sieg in Folge die Führung übernahm. In der letzten Runde an diesem Montag ab 17 Uhr könnte Carlsen den Gesamtsieg in der Grand Chess Tour noch an den Franzosen Maxime Vachier-Lagrave verlieren.
Wie unmittelbar vor dem Turnier bekannt wurde, wird sein nächster WM-Kampf gegen den Sieger des Berliner Kandidatenturniers ebenfalls in London stattfinden. Das hat vor allem auch damit zu tun, dass der Hauptsponsor PhosAgro an der Londoner Börse notiert ist und die Familie ihres Hauptsponsors Andrej Gurjew in London lebt. Der Termin zwischen dem 10. und 29. November wirkte zunächst wie ein K.o.-Schlag für das London Chess Classic, das gegen die Publicity eines Titelkampfes kaum ankommen würde. Doch inzwischen hat Organisator Malcolm Pein einen Plan bekanntgegeben: Statt eines Turniers mit zehn Spielern werden nur die vier Besten der vorangehenden Tour-Turniere um ein relativ hohes Preisgeld spielen, wozu sich wohl auch die WM-Finalisten vertraglich verpflichten lassen werden. So ist eine weitere Auflage des bestorganisierten Schachfestivals der Welt im Anschluss an die WM gesichert – und damit dann auch Deep Mind wieder mit im Spiel.