Es ist kein gewöhnlicher Wettkampf, zu dem sich Magnus Carlsen in diesen Tagen Hikaru Nakamura stellt. Sie beginnen zwar mit dem üblichen Figurenarsenal, jedoch nicht aus der üblichen Anfangsstellung. Die Aufstellung der Figuren auf der Grundreihe wird vor jedem Partienpaar ausgelost. Jeder spielt eine Stellung einmal mit Weiß und einmal mit Schwarz – und das umgeben von Werken des Fotokünstlers Dag Alveng und der Performancekünstlerin Marina Abramovic im Henie Onstad Kunstsenter, einem Privatmuseum im Westen von Oslo. Zehn Kilometer entfernt ist Carlsen aufgewachsen. Die bisherigen sechs Spiele haben nicht enttäuscht. Nakamura geht risikofreudiger zu Werk und konnte Carlsen immerhin einmal schlagen. Doch der Weltmeister im klassischen Schach verteidigt und kontert geschickt und führt den mit 153 000 Euro dotierten Schaukampf dank zwei Siegen vor den an diesem Montag und Dienstag jeweils ab 17 Uhr noch zehn ausstehenden Partien an. Aus dieser Stellung begannen die Spiele Nummer fünf und sechs:
Zunächst hatte Carlsen Weiß. Er begann zaghaft mit 1. d4 d5 2. Sb3, woraufhin sein amerikanischer Gegner seinem Turm mit 2. … e5 3. dxe5 Txe5 eine Linie öffnete. In der folgenden Partie hatte Namakura Weiß und eröffnete mit 1. e4 e5 2. Sb3. Das offensichtlich geplante 3. d4 unterband Carlsen radikal mit 2. … c5. Die beiden nachspielenswerten Partien wurden übrigens jeweils von Schwarz gewonnen.
Auf Schachservern, die sonst jeden Quatsch übertragen, kann man die Partien wohl deshalb nicht finden, weil die technischen Systeme auf die herkömmliche Grundstellung eingestellt sind. Dafür bietet die offizielle Liveübertragung charmant-fachkundige Erläuterungen des amerikanischen Großmeisters Yasser Seirawan und der ungarischen Großmeisterin Anna Rudolf und misst den beiden Spielern sogar den Puls. Der Sportler Carlsen bewahrt die Ruhe, selbst wenn er schlecht steht. Dagegen schnellt Nakamuras ohnehin schon deutlich schnellere Herzfrequenz nach oben, wenn er von einem Zug überrascht wird.
Erfunden und vorgestellt wurde diese Spielart 1996 von Bobby Fischer. Im Unterschied zu früheren Shuffleschach-Varianten mit veränderter Grundstellung forderte der Exweltmeister, dass die Läufer jedes Spielers auf Feldern unterschiedlicher Farbe und die Könige jeweils zwischen den beiden Türmen beginnen müssen. Nach einem Rochadezug landen König und Turm dann auf den gleichen Feldern wie im herkömmlichen Schach, so dass nach zehn, fünfzehn Zügen ähnliche Stellungsbilder entstehen.
Herkömmliches Turnierschach wird von einer enorm ausdifferenzierten Eröffnungstheorie dominiert. Ohne lange Zugfolgen auswendig zu lernen und ständig am Computer zu trainieren, bringt man es nicht mehr weit. Immer mehr Partien gehen durch Unwissen einer Seite verloren. Oder sie laufen, nachdem beide Kontrahenten ihr Variantenwissen abgespult haben, auf ein banales Remis hinaus. „Angesichts der hohen Zahl von Remis in klassischen Events sollten wir uns stärker damit befassen, wie Schach wieder aufregend wird“, hat Nakamura in einem Interview vor dem Match gefordert.
Weil Bobby Fischer auch durch antisemitischen Ausfälle von sich reden machte, sprechen viele lieber nicht von Fischer Random Chess oder Fischerschach sondern beziehen sich auf die 960 verschiedenen Anfangsaufstellungen, die sich nach der Auslosung ergeben können. „Chess960“ geprägt hat der hessische Schachpromotor Hans-Walter Schmitt. 2001 etablierte er auf dem „Chess Classic“-Festival in Mainz eine inoffizelle WM in der neuen Spielart. Ihr letzter Sieger hieß 2009 Nakamura.
Vor allem aber nicht nur deshalb bot sich der Amerikaner als Matchgegner und „Titelverteidiger“ für diesen inoffiziellen WM-Kampf an. In den von Carlsen angeführten Schnell- und Blitzschachweltranglisten steht Nakamura jeweils auf Platz drei. Und er ist nicht für das im März in Berlin anstehende WM-Kandidatenturnier qualifiziert, dessen Vorbereitung für acht der Weltbesten derzeit Vorrang hat.
Zahlreiche Weltklassespieler haben Fischers Variante probiert und wünschen sich Wettbewerbe im „Schach der Zukunft“. Der Weltschachbund hat Chess960 sogar als einzige Schachvariante in seinem Regelwerk aufgenommen. Doch seit dem Ende von Hans-Walter Schmitts Festival wird es auf hohem Niveau kaum noch praktiziert. Chess960 mit langer Bedenkzeit und Jugendturniere gibt es fast gar nicht. Etwas größer ist die Bereitschaft im Fernschach, weil von den nach herkömmlichen Regeln ausgetragenen Begegnungen inzwischen achtzig bis neunzig Prozent remis enden.
Dabei gäbe es eine einfache Möglichkeit, die Verbreitung von Fischers Variante zu fördern. Die Regelhüter müssten nur zulassen, dass jede Turnierpartie im Fischer Random ausgetragen und dann auch ausgewertet werden kann, wenn beide Spieler vorher zustimmen. Die Auslosung der Grundstellung ist mit jedem Smartphone möglich. Es geht aber, wie der Jenaer Mathematiker Ingo Althöffer vorgeschlagen hat, auch mit einem Würfel. Wahrscheinlich würde es sich lohnen, einige der 960 Stellungen auszunehmen, neben der herkömmlichen Grundstellung auch solche mit den Läufern in der Ecke, weil sie durch raschen Abtausch auf der langen Diagonalen zu Verflachung und Remis neigen.
Trainer und Funktionäre stehen derweil allem ablehnend gegenüber, was nicht dem sportlichen Erfolg im Normalschach nutzt. Dabei könnten auch viele Schachvereine mehr Abwechslung gut gebrauchen. Symptomatisch ist, dass die Initiative in Norwegen weit weg vom organisierten Schach entstanden ist. Sie stammt von Dag Alveng, zwischen dessen Fotoarbeiten Carlsen und Nakamura spielen.
Glückwunsch Magnus Carlsen!
Jeder Sport hat (und braucht) wohl sein „Entfant terrible“ ebenso wie seinen Gentilhomme: Den koksenden, ohrabbeissenden Mike Tyson gegen den ruhigen und tiefgläubigen Evander Holyfield beim Boxen, den begüterten, aber gegen angebliche Ungleichbehandlung protestierenden Colin Kaepernick gegen die beiden charismatischen Joes (Namath und Montana) beim Football, den antisemitischen jüdischen Exzentriker Bobby Fischer gegen den Gentleman par excellence José Capablanca beim Schach. Wobei in meinen Augen Fischers 960er-„Schach“ diesen Namen nicht verdient; denn Schach beginnt für mich in der Grundstellung, alles andere ist eine Vergewaltigung der Königin aller Spiele. Vielleicht aber ist meine Elo-Zahl auch nur zu niedrig, um dies zu beurteilen, immerhin verliere ich oft, beim 960er Schach gar immer, weshalb ich´s wohl weder mag, noch je mehr spielen werde…
Reiz der Novitäten?
Für konservative Geister ist es bisweilen schwer, den Reiz des Neuen nachzuempfinden. In immer mehr Bereichen, vor allem im Sport, dient die Veränderung des manchmal über Jahrhunderte Bewährten lediglich kommerziellen Interessen. Dies hier ist eher ein neckische Variante scheinbar ohne tiefen Sinn, aber immer noch harmloser als z.B. die Verstümmelung des Tennissports durch kürzere Sätze und Matches.