Berührt, geführt

Berührt, geführt

Das Schachblog von FAZ.NET

Großes Kino

| 0 Lesermeinungen

Wie Magnus Carlsen von Partie zu Partie mutiger spielt. Wie er die vermeintlichen Regeln guten Schachspielens außer Kraft setzt und dabei die seltsamsten Grimassen schneidet. Wie er das Match vorentscheiden kann, dabei vor lauter Gewinnenwollen übersieht, dass er keine Bedenkzeit mehr hat, und so alles noch einmal spannend macht. Wie der Held die Sache am Ende doch noch klar mit 14:10 Punkten für sich entscheidet. Beim Fischerschach gegen den Amerikaner Hikaru Nakamura hat der Weltmeister eine große Show abgezogen. Das Mobilfunkunternehmen, das den Wettkampf sponserte, reagierte rasch und mit Stil:

Poster: ice.no

In den ersten acht Partien hatten die Spieler 45 Minuten für die ersten vierzig Züge und nochmal 15 Minuten für den Rest, wobei die erzielten Punkte doppelt zählten. Beim Stand von 9:5 konnte Carlsen mit einem weiteren Sieg nahezu schon alles klar machen. Mit einem 5:11-Rückstand hätte Nakamura in den ausstehenden acht Zehn-Minuten-Partien ein 7,5:0,5 gebraucht, um das Match noch zu drehen. Nach zwanzig Zügen stand es so:

Mit 21. Dg3, was 22. Sxc7 Kxc7 23. Txd7+ nebst 24. Dxe5 droht, konnte Carlsen die Schrauben anziehen. Noch stärker war sein Zug 21. Lxa6!, da er nach 21. … bxa6 22. Dc4 Txd5 23. Dxa6+ Kb8 24. Txd5 nahezu auf Gewinn stünde. Nakamura schlug den Läufer nicht und verteidigte sich mit 21. … c6. Darauf holte sich Carlsen mit 22. Sb6+ Kc7 23. Sxd7 Txd7 24. Txd7+ Dxd7 25. Dxd7+ Kxd7 26. Lxb7 zwar einen zweiten Bauern, bekam aber nach 26. … Ta5 Probleme mit dem Läufer. Statt 22. Sb6+ wäre es stärker gewesen, mit 22. Sb4! am Drücker zu bleiben. Da 22. … bxa6 23. Sxc6 ausscheidet, hätte Weiß Angriff und Mehrbauer behalten.

Die Partie lief auf ein Endspiel mit Carlsens Turm und Läufer gegen Nakamuras Turm hinaus, in dem Carlsen mit nur noch etwa zwanzig Sekunden Bedenkzeit eigentlich keine reellen Gewinnchancen hatte. Dass er es weiter versuchte, wunderte auch Nakamura der mehrmals mit Augenkontakt seine Bereitschaft zum Remismachen signalisierte. Selbst Remis zu bieten gehört sich für einen Spieler mit Materialnachteil nicht. Hätte Carlsen Remis geboten oder beim Schiedsrichter reklamiert, bevor seine Bedenkzeit ablief, wäre die Punkteteilung perfekt gewesen. Doch er überschritt die Bedenkzeit und ärgerte sich anschließend über seine Dummheit.

Carlsen hat gerade die Zeit überschritten und kann es nicht fassen (Foto: Maria Emeljanowa, Chess.com)

Zum abschließenden Tag mit acht Zehn-Minuten-Partien kehrte der ganz in der Nähe aufgewachsene und wohnende Norweger aber bester Laune ins Henie Onstad Kunstsenter zurück. Aus Fairnessgründen wurden jeweils zwei Partien mit wechselnder Farbe aus der gleichen Grundstellung absolviert, wobei auch wechselte, wer in einem Partienpaar zuerst Weiß hatte. Carlsen sollte die neunte Partie, also die erste Schnellpartie, beginnen:

Im herkömmlichen Schach ziehen nur blutige Anfänger zuerst ihre Randbauern. Hier aber begann der Weltmeister persönlich mit 1. a4 und zog (nach 1. … e6) gleich noch 2. a5 hinterher. Es war sehenswert, wie er Nakamura fertig machte und dabei auch diesen frechen a-Bauern später zum Mattangriff einsetzte (zum Nachspielen hier die Partienummer neun wählen).

Vor der elften Partie fand Carlsen Zeit, die folgende Ausgangsstellung zu tweeten mit der Anmerkung, 1. 0-0 sei ein interessanter Zug.

Statt mit der (sehr) kurzen Rochade (der König wechselt mit dem rechts von ihm auf g1 stehenden Turm die Plätze) eröffnete Carlsen mit 1. c4, woraufhin Nakamura sofort mit der Rochade reagierte und Carlsen es ihm gleich nach tat. Wieder gewann Carlsen. Nach 13 von 16 angesetzten Partien war ihm mit 12,5:8,5 das Siegergeld von umgerechnet 92 000 Euro bereits sicher, doch die übrigen drei Partien wurden noch ausgespielt. Carlsen hofft, dass nach diesem inoffiziellen Titelkampf bald eine richtige Weltmeisterschaft im Fischerschach ausgetragen werde.

Während das Match in Norwegen, wo ihm der Fernsehsender NRK2 viele Sendestunden widmete, weite Beachtung fand, wurde es von Teilen der Schachszene ignoriert. Fischerschach sei doch kein richtiges Schach. Viele Websites sind technisch nicht in der Lage, Partien aus einer anderen als der herkömmlichen Grundstellung wiederzugeben. Dazu kommt, dass sich mit Fischerschach nun mal kein Eröffnungsvariantenwissen verkaufen lässt – was für einige Anbieter aber wesentlicher Teil des Geschäftsmodells ist.

Ausprobiert werden kann Fischerschach, das manchmal auch als Chess960 bezeichnet wird, nur auf einem Teil der Schachserver. Promotet wird diese Spielvariante vor allem von Chess.com. Auch nicht jede Schachsoftware ist auf sie eingestellt. Eine kurze Erklärung der Regeln samt Auslosungsfunktion für die Grundstellung haben die Schachfreunde Birkenfeld ins Netz gestellt.

Beachten sollte man, ob es in der Anfangsstellung einen ungedeckten Bauern gibt, der mit Tempogewinn angegriffen werden kann. Hier hat Weiß mit 1. c4 begonnen und Schwarz aus der eigentlich richtigen Erwägung, das Zentrum zu kontrollieren, mit 1. … e5 reagiert:

Doch nach 2. Dxh7 geht neben dem Bauern auch noch der Turm verloren. Es geht sogar noch schlimmer. Eine Partie kann – einen Halbzug schneller als im herkömmlichen Schach – nach dem zweiten weißen Zug bereits ganz vorbei sein:

Entdecken Sie den allerschlechtesten ersten Zug für Schwarz?


Hinterlasse eine Lesermeinung