Berührt, geführt

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„Dieses Gebäude zu betreten könnte Ihren IQ deutlich anheben. Schach macht das mit Menschen.“ Diese beiden Sätze prangen in englischer Version drei Stockwerke breit vom Kühlhaus, einem Veranstaltungszentrum in baufälligem Hipsterlook in Berlin-Kreuzberg, wo bis 27. März der nächste Herausforderer von Weltmeister Carlsen ermittelt wird. Um Aufmerksamkeit für sein Event zu schaffen, ist dem Veranstalter Ilja Merenzon kein Versprechen zu groß. Freihändig wirft der Russe auch mit Zahlen um sich. Zwanzig Millionen sollen dem Turnier mindestens täglich folgen. Nach einem Schachevent verdreifache sich das Honorar der örtlichen Schachlehrer. Vor Jahren spielten schon sechshundert Millionen Menschen Schach, inzwischen seien es sicher schon viele mehr. Eine Milliarde vielleicht? Wer weiß das schon? Wer Ilja Merenzon schon früher nicht glaubte, wird es auch jetzt nicht tun. Die anderen lassen ihn gewähren. Hauptsache, Schach ist im Gespräch.

Schachpromoter Merenzon hat stets einen unglaublichen Spruch parat – dieser begrüßt die Besucher der Kandidatenturniers (Foto: Stefan Löffler)

Zur gutgelaunten Pressekonferenz am Nachmittag vor der ersten Runde trug auch Wladimir Kramnik gerne bei. Wahrscheinlich verdanke er seinen Freiplatz für das Turnier in Berlin der Tatsache, dass er den Namen dieser Stadt im Schach so populär gemacht hat – nämlich mit seiner „Berliner Verteidigung“, an der sich Garri Kasparow und andere die Zähne ausbissen, bis alle nur noch von der „Berliner Mauer“ sprachen. Wenn er sie ab morgen nicht mehr spielen dürfte, weil jede Grundstellung neu ausgelost würde, wäre Kramnik dabei. Gäbe es eine Petition, dass keiner mehr einen Computer zur Vorbereitung nutzen dürfte, wollte er sie als erster unterschreiben. Doch leider sei die allgemeine Abrüstung unter Schachprofis so unwahrscheinlich wie eine Welt ohne Atomwaffen.

Natürlich hat Kramnik vom in Berlin regelmäßig gefrönten Schachboxen gehört. Würde das Kandidatenturnier im Schachboxen ausgespielt, hätte er, als einziges Schwergewicht im Feld, wohl die besten Chancen. Er wünsche sich ja, dass wir in den nächsten zweieinhalb Wochen den ehrgeizigen, soliden Kramnik zu sehen kriegen, doch wahrscheinlich werde wieder der Künstler mit ihm durchgehen. Vor dem Turnier in Wijk aan Zee im Januar habe er sich vorgenommen, wenig zu riskieren. Stattdessen endete er mit mehr entschiedenene Partien als jeder der anderen 13 Teilnehmer. Am Ende komme es aber nicht darauf an, ob man riskant oder vorsichtig spiele, sondern nur dass man gute Züge macht. Und dass wir in der Kandidatenausscheidung viele gute Züge und neue Ideen zu Gesicht bekommen werden, das Beste, was Schach derzeit zu bieten hat, davon ist der Russe überzeugt: Alle acht Kandidaten hätten sich schließlich seit Monaten mit ihren Teams akribisch vorbereitet.

Gut gelaunte Zitatspender (v.l.) Kramnik, FIDE-Interimschef Makropoulos und Promoter Merenzon (Foto: WorldChess)

In seinem eigenen Team hat der 42jährige Russe eine Überraschung: Anish Giri, der beim letzten Kandidatenturnier alle 14 Partien remisierte und dieses Mal die Qualifikation sehr deutlich verpasste, half ihm bei der Vorbereitung und sekundiert in Berlin. Pikanterweise hat Giri in einer lesenswerten Spezialausgabe der Zeitschrift „New in Chess“ gerade alle acht Kandidaten mit ihrer wichtigsten Stärke und Schwäche rezensiert. Kramnik stufte er dabei als besonders instabil ein, fügte aber an, dass er sicher wieder mit etwas Neuem aufwarten könne. Womit Giri wohl sich selbst meinte. Kein geringerer als Weltmeister Carlsen hat die Personalie spitz kommentiert und damit auf Twitter einen von Chess24 genüßlich annotierten Schlagabtausch ausgelöst.

Eine Chancenschau aller acht Kandidaten hat nicht nur der zweitbeste Nichtqualifikant Giri, sondern auch der elobeste Nichtqualifikant verfasst, nämlich Maxime Vachier-Lagrave – nicht so doppelbödig wie Giri, dafür mit bodenständiger Ehrlichkeit. Kramnik attestierte er das höchste Schachverständnis von allen, Wesley So fehle es an Aggressivität in der Eröffnung, die besten Chancen gibt der Franzose Aronjan und Caruana. Auf letzteren tippt übrigens auch Carlsen selbst. Die von der Zeitschrift „Schach“ befragten Experten, wenn sie sich denn auf einen Namen festlegen ließen, nannten mit großer Mehrheit Aronjan.

 

 

 


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