Berührt, geführt

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Mensch Kramnik!

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Da hat er die ersten drei Runden wie Gott gespielt, so ungefähr stand das jedenfalls am Mittwoch in der Frankfurter Allgemeinen, und zack, verliert Kramnik auf denkbar blöde Weise. Lang und mutig auf Gewinn gespielt, als der Vorteil weg war die leichten Wege zu einem Vernunftremis ausgelassen, und dann in Zeitnot nach fast sechs Stunden der Blackout. Punkt weg, Führung weg, und vom Götterstatus wollen wir lieber auch nicht mehr reden. Toll gekämpft, aber davon kann er sich jetzt nichts kaufen. Mensch Kramnik!

Kramnik nach dem Blackout (Foto: Jewgeni Surow/Chess-News.Ru)

Was hat Kramnik aus dem Trott gebracht? Etwa der vorangehende erste Ruhetag des Kandidatenturniers? War es der Kabarettist Matthias Deutschmann, der als Grüßaugust für die Fotografen an Kramniks Brett den ersten Zug ausführen durfte?

Matthias Deutschmann zieht für Kramnik und für die Fotografen (Foto: WorldChess)

Oder war es, dass ihm an einem anderen Brett ein Trauma in Erinnerung gerufen wurde? Alexander Grischtschuk brachte gegen Ding Liren das gleiche, aberwitzige Springeropfer, das ihm 2008 in Wijk aan Zee Wesselin Topalow vorgesetzt hatte. Ausgerechnet der Bulgare, der Kramnik seit ihrem Skandalmatch 2006 so zuwider war, dass er ihm nicht einmal mehr die Hand gab.

Als Kramnik damals sah, dass Topalow den Springer in die Hand nahm, notierte er auf seinem Partieformular bereits 12. Sxd7. Doch der zog 12. Sxf7, und Kramnik traute seinen Augen nicht. Diese Stellung stand damals in der Frankfurter Allgemeinen, und zwar sogar auf Seite 1. Dass Weiß auf d6, direkt neben dem schwarzen König, einen in alle Richtungen ausgreifenden Oktopus installiert, ist tatsächlich eine ganze Figur wert.

Topalow spielte hier damals 16. Lg4 und gewann eine taktisch brilliant geführte Partie, doch Sergei Karjakin fand einige Monate später, dass Schwarz mit 16. … h5! 17. Lxh5 Taf8 18. Dg4 Lh6 in Vorteil kommen konnte. Grischtschuk zog darum 16. a4, gefolgt von Le2-f3xd5. Ding kannte sich nicht mehr aus. Vier Züge später passierte dem Chinesen 21. … exf4

…und erkannte, was er angerichtet hatte: 22. Lh4+ Lf6 23. Dg4! hätte für Weiß schnell gewonnen, weil auf 23. … Thg8 24. exf6+ (aber nicht, wie hier ursprünglich behauptet 24. Dxf4 wegen 24. … Lg5!) nebst 25. Dxf4 folgen kann. Ding sah jetzt, dass er nach 22. … Dxd4 23. Lxf6+ Sxf6 24. Dg7+ Kd8 25. Sb7+! mattgesetzt wird. Doch anscheinend hat er einen Schutzengel. Grischtschuk zog 21. Txf4. Durchatmen. Weiterkämpfen. Beide spielten die hochkomplizierte Stellung wohl perfekt weiter. Die Materialverhältnisse wechselten noch mehrmals. Zwischendurch hatte sogar Grischtschuk eine Qualität mehr. Am Ende stand ein spektakuläres Remis, das hier nachgespielt werden kann.

Zurück zu Kramnik. Anfangs wurde geätzt, weil er früh die Damen tauschte. Gegen den eröffnungstheoretisch beschlagenen Taktiker Caruana aber eine plausible Idee. Zumal Kramnik in der vermeintlich einfachen Stellung den Amerikaner ganz schön unter Druck zu setzen verstand. Doch der verkomplizierte munter mit, bis niemand mehr wusste, was genau los war.

Beide hatten einen Freibauern ein Feld vor der Umwandlung. Caruana eroberte eine Figur. Dafür hatte Kramnik am Damenflügel gleich vier verbundene Freibauern. Zeitweise sahen die Computer Schwarz im Vorteil, zeitweise Weiß. Doch einen offensichtlichen Gewinnweg gab es nicht. Ein falscher Zug konnte jederzeit die Partie entscheiden. Hier glaubte sich Kramnik am Ziel:

46. Lc6 mit der möglichen Folge 46. … Tg3 47. d8D Lxd8 48. Td7 hätte seine Gewinnchancen gewahrt, doch Kramnik zog 46. Tb8 Txa7 47. Tg8 und glaubte, dass die Drohung 48. Txg5 nebst 49. d8D entscheidet. Doch Caruana erwiderte cool 47. … Lf6:

Autsch. Nach 48. Txg4 Kf5 droht Matt auf a1, und Schwarz bekommt den Turm zurück. Dann besser 48. d8D Lxd8 49. Txd8, doch nach 49. … Tb7 war der weiße Vorteil futsch. Andere Spieler fügen sich nach so einem Übersehen gern ins Remis. Kramnik probierte es weiter. Nach vier Runden fast alle schon um mindestens anderthalb Punkte hinter sich zu lassen war einfach zu verlockend. Mehrmals konnte er eine Remisstellung erzwingen. Doch er wollte nichts unversucht lassen. Bis er nur noch dreißig Sekunden pro Zug hatte, und Remismachen auf einmal nicht mehr trivial war. Vier Stockwerk höher zählten die Kommentatoren Judit Polgar und Lawrence Trent die letzten Kramnik verbliebenen Sekunden Bedenkzeit runter, dann kam sein Blackout.

59. Txf6 Sxe1 60. Lf1 hätte hier noch für ein Remis gereicht. Selbst wenn Weiß den Läufer für den letzten schwarzen Bauern geben muss, wird er mit Turm gegen Turm und Springer nicht verlieren. Doch Kramnik fand nur das natürliche, aber verlierende 59. Td1?? Einen Schutzengel hatte er auch nicht. Dazu war 59. … Ta1+ 60. Kc2 Txd1 zu einfach. Hier sah Kramnik, was er angerichtet hatte: 61. Kxd1 h2 62. Th6 Lh4 nebst Umwandlung des h-Bauern. Das war der Moment, als sein Kopf, wie von Jewgeni Surow bildlich festgehalten, Richtung Tischplatte sackte. Die Partie samt dem traurigen Schlussspiel können Sie hier nachvollziehen.

In der anschließenden Pressekonferenz behauptete Kramnik immer wieder, er sei auf Gewinn gestanden oder dass wenn überhaupt einer nur Weiß gewinnen konnte. Immer wieder, wie eine Gebetsmühle. „Es gab einige Stellungen, in denen er schlechter stand, aber an die konnte er sich nicht erinnern“, meinte der neue Tabellenführer Caruana trocken. Mensch Kramnik, du ewiger Optimist.

Kandidatenturnier nach 4 von 14 Runden: 1. Caruana 3, 2.-3. Kramnik, Mamedscharow je 2,5; 4.-6. Aronjan, Ding, Grischtschuk je 2; 7.-8. Karjakin, So je 1

Fünfte Runde Donnerstag 15. März ab 15 Uhr. Liveübertragungen u.a. bei Chess24 oder bei Chessbase.


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