Berührt, geführt

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Angezählt

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Verpasste Chancen sind eine vertrackte Sache. Es gibt wenige, die ihre nächste Partie runterspielen können, als wäre nichts gewesen. Manche Spieler streben nach einer Enttäuschung erst einmal ein sicheres Remis an, um wieder ins mentale Gleichgewicht zu kommen. Sie wollen einfach nur die Runde überstehen, weil sie wissen, dass sie vor der nächsten Runde ohnehin nicht mit voller Kraft zuschlagen können. Aber es gibt auch Spieler, die verdrängen, dass sie angezählt sind. Die sich den Punkt sofort zurückholen wollen. Dazu gehören Wladimir Kramnik, der am Mittwoch durch zu langes auf Gewinn spielen und einen Blackout gegen Fabiano Caruana verloren hat, und Lewon Aronjan, der am Donnerstag Alexander Grischtschuk toll überspielte, aber den entscheidenden Schlag nicht setzte. Beide haben ihr sechstes Spiel im Kandidatenturnier verloren, weil sie zu viel wollten. Schachrijar Mamedscharow war lange auch einer, der es oft mit der Brechstange versuchte. Doch in Berlin zeigt der frühere Heißsporn Coolness und hat mit relativ geringem Kraftaufwand nun die Führung mit übernommen.

Angeschlagener Schachmeister (Zeichnung: Enki Bilal)

So stand es nach 28 Zügen, und hätte Kramnik nun den Springer nach a5 gezogen, wo er schon einmal stand, hätte Mamedscharow wahrscheinlich auch wieder den Läufer nach d3 gezogen. Ein Remis durch Stellungswiederholung lag in der Luft. Doch Kramnik wollte nicht und zog 28. … h5. Nicht nur das: Nach 29. g5 fxg5 30. e5 T6d7 31. hxg5 musste es auch noch 31. … h4 sein. Als ob dieser Bauer für Weiß gefährlich wäre und nicht einfach nur eine willkommene Zielscheibe. Acht Züge später war der Bauer futsch, und Mamedscharow stand technisch auf Gewinn. Schließlich wandelte er seinen g-Bauern in eine Dame um. Selbst dann kämpfte Kramnik noch weiter.

Es droht 62. … Lc2 matt, und hätte Mamedscharow hier beispielsweise 62. Dd8+ gezogen, wäre Weiß nach 62. … Kc4 verloren. Freilich war das Matt abwendende 62. Tg2 (und falls dann 62. … Kc4 63. Dxe6+ bzw. 62. … Kc3 63. Dg3+) leicht zu sehen. Hier können Sie die Partie nachspielen.

Nicht ganz so suizidal wie Kramnik, aber auch eine Spur zu ehrgeizig agierte Aronjan in seiner Schwarzpartie gegen Wesley So. Der als einziger Teilnehmer ohne Sekundant angereiste Amerikaner philippinischer Herkunft war mit zwei Niederlagen gestartet, fing sich aber durch einige Risiken vermeidende Remis.

Um sich einen Bauern auf a5 einzuheimsen, hat Aronjan seinen Turm, Springer und Dame eher unglücklich aufgestellt. Seine Bauern auf a6 und e6 sind schwach. Alles wäre halb so wild, wenn er seinen c-Bauern in Bewegung bringen könnte, doch leider erlaubt c5-c4 meist Sf3-d4. Zudem spielt sich die Stellung für Schwarz als für Weiß. So zog hier das feine 21. Ta2!, gefolgt von 22. b3, 23. Dc2 und 24. Tea1. Zunächst verteidigte sich Aronjan gut. Bald stand es so:

Hier zeigte der Computer einen originelle Idee für Weiß: 33. Td6!? und falls 33. … Lxd6 34. Sg5 Dh2+ 36. Kf1 g6 37. Txd6 mit entscheidendem Angriff (37. … Dxd6? 38. Sf7+). Schwarz kann sich allerdings auch unter Aufgabe seiner Dame verteidigen mit 33. … c4 34. Ld4 Dxd6 35. Lxg7+ Kg8 36. Txd6 Lxd6. In dieser unübersichtlichen Lage hat Weiß wahrscheinlich die besseren Chancen dank 37. Dd1 Td5 und nun nicht 38. Dg4? h5 39. Dg6? Td1 matt sondern 38. Ld4. Wesley So spielte das näher liegende 33. Sf4, und diese Stellung ist immer noch sehr tückisch für Schwarz. Knapp bei Zeit beging er nur vier Züge später einen entscheidenden Fehler. Nach 38. Te6

…war Materialverlust nicht zu vermeiden: 38. … Df7 39. Td7 Te8 40. De4 oder 38. … Dh4 39. De4 (und falls 39. … Sd6 40. T1xd6 Lxd6 41. Sg6+ nebst 42. Dxh4) sieht düster aus. Aronjan versuchte 38. … Dg5 39. Sg6+ Dxg6 40. Txg6 hxg6. Nach dem Doppelangriff 41. De4 auf den Springer c4 und Läufer e7 hätte er das Handtuch werfen können – oder sogar sollen – statt sich noch in stets klar verlorener Lage bis zum 78. Zug zu quälen.

Die meisten Zuschauer und Berichterstatter haben sich das Ende nicht mehr angetan. Viele waren da schon beim Intellectual Fight Club, vulgo Schachboxen, in der Festhalle Kreuzberg. Ausgedacht hat sich diese eigenartige Mischung aus zwei gegensätzlichen Sportarten der französische Comiczeichner Enki Bilal, in dessen Band Froid Equateur (Casterman 1992) sie erstmals vorkam und aus dem auch die Zeichnung oben stammt. Der in Berlin lebende niederländische Künstler und Impressario Iepe Rubingh hat Bilals Fantasie 2003 in die Realität umgesetzt, und seitdem Schachboxevents in mehreren Ländern aufgezogen und Gründungen von Schachboxclubs inspiriert.

Schachboxnacht in Kreuzberg (Foto: Yves Sucksdorff)

Beim Schachboxen wird abwechselnd eine Runde geboxt und eine Runde Schnellschach gespielt. Bei Schachmatt, Zeitüberschreitung oder k.o. ist der Kampf zu Ende. Der erste Kampf am Freitagabend endete durch Matt, im zweiten Kampf warf der öfter getroffene Kämpfer das Handtuch. Im letzten Kampf des Abends verlor der finnische Herausforderer in der fünften Runde gegen den Dresdner Sven Rooch beim Schach völlig den Faden, stellte mehrere Figuren ein, versuchte in den folgenden Boxrunden vergeblich Rooch k.o. zu schlagen, und überschritt in der neunten Runde in völlig aussichtsloser Stellung die Bedenkzeit. Mit 600 Zuschauern sahen übrigens doppelt so viele die Schachboxkämpfe wie die Kandidatenturnierrunde im Kühlhaus. Dort ist nach all den Aufregungen der letzten Tage nun erstmal Ruhe bis Sonntag um 15 Uhr.

Kandidatenturnier nach 6 von 14 Runden: 1.-2. Caruana, Mamedscharow je 4; 3.-5. Ding, Grischtschuk, Kramnik je 3; 6.-7. Aronjan, So je 2,5, 8. Karjakin 2

Sechste Runde Sonntag 18. März ab 15 Uhr. Liveübertragungen u.a. bei Chess24 oder bei Chessbase.


1 Lesermeinung

  1. oneofseven sagt:

    Lesenswerter Beitrag
    …immer diese vertrackten “Kleinigkeiten“…

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