Dings Remisserie hat den neunten Spieltag knapp überstanden. Caruana hat gegen ihn ein paar Gewinnwege nicht gefunden und seine Führung dann doch nicht ausgebaut vor dem wichtigen Spiel gegen Mamedscharow am Donnerstag. Kramnik hat schon wieder verloren. Diesmal gegen Karjakin, der sich vom Schlusslicht in die Mitte der Tabelle hochgearbeitet hat. Die anderen haben mäßig interessante Remis abgeliefert. Soweit die Kurzversion vom neunten Spieltag im Kühlhaus. Lehnen wir uns zurück und beobachten die Gladiatoren einmal mit anderen Augen. Nämlich den Augen von Andreas Dilschneider, Schauspieler, Schachspieler und Business Coach für Körpersprache.
Bei Ding Liren fällt Dilschneider auf, dass der Chinese sich kaum Raum nimmt und oft auf der Stuhlkante sitzt. Die meiste Zeit hält er den Kopf zwischen den Händen. „Ungefähr alle 45 Sekunden checkt Ding das Gesicht seines Gegners. Er schaut nur vom Brett auf, ohne den Kopf zu bewegen. Er lauert auf verwertbare Informationen.“
Am eindeutigsten zuordnen lasse es sich, wenn jemand vom Brett wegschaut, erläutert Dilschneider: „Links oben ist das visuelle Gedächtnis. Das sieht man vor allem in der Eröffnungsphase häufig, wenn Varianten abgerufen werden. Schaut er nach rechts oben, rechnet er. Augen nach unten heißt innerer Dialog. Dann ist er in der Bewertungsphase.“ Besonders gut zu beobachten sei all das bei Hikaru Nakamura, der sich aber dieses Mal nicht fürs Kandidatenturnier qualifiziert hat.
In der Regel gelte, „wer im Vorteil ist oder angreift, nimmt sich mehr Raum. Wer gerade verteidigt, gräbt sich mehr rein.“ Fabiano Caruana war während der von Dilschneider gesehenen Partie gegen Ding nahezu sechs Stunden lang über am Drücker. „Er sitzt selbstbewusst am Brett, Schultern offen, durchaus dominant, aber er verrät sehr wenig.“
Schachrijar Mamedscharow erlebt Dilschneider als „sehr selbstbewusst. Er beugt sich übers Brett, selbst wenn er nicht am Zug ist. Damit signalisiert er, hier ist mein Reich, hier fühle ich mich wohl.“
Bei Lewon Aronjan ist es schon ein Tick, wie häufig er die Schultern nach hinten reißt. Nicht nur, wenn er nach seinen Zügen herumläuft sondern sogar am Brett streckt der Armenier so seinen Oberkörper nach vorne. „Er ist überhaupt nicht locker. An diesen Verspannungen muss er arbeiten. Der Druck, sich hier gegen sieben andere durchsetzen zu müssen, macht Aronjan zu schaffen. Ein Zweikampf wäre leichter für ihn“, glaubt Dilschneider.
Wesley So erlebt der Körpersprachcoach dagegen entspannt. „Er hat oft den Kopf aufgestützt, den Stuhl nah am Tisch, wenig Mimik.“ Warum es sich für einen Profi lohnt, sich mit Körpersprache zu befassen? Weil man damit signalisieren könne, dass man auf Sieg spielt. Und weil man unbewusste Signale des Gegners besser deuten könne. Als Beispiel führt Dilschneider an, als Carlsen in der sechsten WM-Partie 2014 mitten beim Aufschreiben seines groben Fehlers 26. Kd2 absetzte und erstarrte. Was Anand aber entging und damit auch die Chance, das Match zu wenden.
Entspannt wirkt auch Alexander Grischtschuk. „Er nimmt sich Raum, lümmelt sich übers Brett, wie er gerade will. Als kümmere ihn das ganze null.“ Wahrscheinlich liegt es an der ereignisarmen Partie, in der sich Grischtschuk von So bald mit einem Remis trennt. „Sein Glaubenssatz lautet ja, dass er gerne Sorgen hat. Er giert nach einer Herausforderung, die er lösen kann, nach Komplexität, in deren Bewältigung er seine ganze Bedenkzeit stecken kann.“
Sergei Karjakin in der so genannten Pressekonferenz nach seinem Sieg gegen Kramnik empfindet Dilschneider „sehr defensiv. Er weicht Augenkontakt aus. Er sitzt so da, als hätte er gerade verloren.“ Während Karjakin zwanzig Minuten abwartete, weil Aronjan und Mamedscharow, die ihre Partie fast gleichzeitig beendeten vor ihm im vierten Stock waren, um Fragen zu beantworteten, hat Kramnik ein paar Autogramme gegeben und ist dann genervt gegangen, so dass Karjakin als erster Spieler die Fragerunde allein absolvierte.
Für Dilschneider zeigt Kramnik unter den Berliner WM-Kandidat das ausgeprägteste Dominanzverhalten. „Er öffnet sich, besetzt den Raum, sehr extrovertiert. Er tritt auf wie jemand in einer Führungsposition.“ In der Tabelle ist Kramnik nach seiner vierten Niederlage allerdings an der Schlussposition angekommen. Sein verbissenes Spiel auf Sieg hat Spekulationen ausgelöst, dass er seine Profikarriere nach dem Kandidatenturnier oder nach den bereits zugesagten Einladungsturnieren beende. Angebote aus der Wirtschaft hatte der Exweltmeister laut dem Buch seines früheren Managers Carsten Hensel schon früher.
Andreas Dilschneider ist am Sonntag als Experte und Moderator beim ersten Berliner Schach Jam dabei.
Kandidatenturnier nach 9 von 14 Runden:
1. Caruana 6, 2. Mamedscharow 5,5; 3. Grischtschuk 5, 4.-5. Ding, Karjakin je 4,5; 6.-8. Aronjan, Kramnik, So je 3,5
Neunte Runde Donnerstag 22. März ab 15 Uhr. Liveübertragungen u.a. bei Chess24, bei Chessbase oder bei WorldChess.