Berührt, geführt

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Schach für Polis

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Normalschach nervt mich, Normalschachspieler langweilen mich. Normalos wollen immer die gleiche Stellung. Um in diese Stellung einzudringen, verbringen sie Ewigkeiten allein vor dem Computer. Manche analysieren bis ins Detail, was ihr nächster Schachpartner in eben dieser Stellung am liebsten tut. Wo bleibt da das Spielerische? Normalos wollen, dass es immer gleich abläuft. Nach anderen Regeln zu spielen, finden sie pervers. Normalschach kann aufregend sein, wie wir gerade beim Kandidatenturnier in Berlin erleben. Aber selber spiele ich lieber anderes. Fischerschach, Tandemschach, Baskisches Schach, Hands & Brain, meinetwegen auch Neoklassisches Schach. Ein Normalo bin ich sicher nicht. Ich glaube, ich bin poli.

Leider ist das Schachleben als Poli sehr beschränkt. Es gibt kaum Spielangebote. In Berlin treffen sich manchmal Tandemspieler donnerstags im Café En Passent. Vorigen Samstag gab es dort ein Fischerschachturnier. Aber das sind schon Ausnahmen. Austoben können sich Polis nur an Pfingsten in Bad Königshofen. Beim Kleinen Unterfränkischen Schachfestival werden Turniere in verschiedenen Schachvarianten angeboten. Ich nenne es lieber das einzige Poli-Camp des Schachs.

In einzelnen Schachvereinen werden Schachvarianten gespielt. In welchen Vereinen kann ich der sonst vorbildlichen Vereinsliste leider nicht entnehmen. Noch nicht. Vielleicht kommt es ja, dass wir Polis als Zielgruppe entdeckt und unsere Bedürfnisse bemerkt werden. Obwohl ich da so meine Zweifel habe. Viele Funktionäre sind ja besonders steife Normalos.

Normalschach hat natürlich Vorteile. Es ist ein seit seinen Anfängen vor 1500 Jahren kontinuierlich verbessertes Spiel, das dank der harmonischen Grundstellung und Zugregeln besonders gut funktioniert. Sieht man einmal von den asiatischen Schachspielen ab, ist es das einzige Schach, das weithin bekannt ist. Aber wer die Normalschachregeln kennt, kann nahezu jede Schachvariante in einer Minute lernen. Und wenn die Variante etwas taugt dann von Spiel zu Spiel neue Entdeckungen machen, Strategien erfinden und ihre Wirksamkeit erproben. Natürlich nicht, wenn die Schachvariante einfach nur unnötig komplex ist wie etwa dieses kommerzielle Produkt oder diverse Schach-für-mehr-als-zwei-Spieler-Sets.

Im Normalschach wird zunehmend reproduziert statt wirklich selbst gedacht. Ein Fabiano Caruana muss sich eine Million Züge merken und regelmäßig monoton durch Berge an Varianten clicken. Das Wissen hat enorme Ausmaße angenommen und Verbreitung gefunden. Wer gut in Strategiespielen ist oder in Familie oder Freundeskreis regelmäßig Schach spielt, aber keine Eröffnungen gelernt hat, kommt gegen Normalos nicht mehr an. Oder allenfalls nach der Eröffnungsphase. Schachvarianten wären eine gute Möglichkeit, um mit Familienspielern und anderen Strategiespiele auf Augenhöhe zu kommen. Schachrätsel, die keine besondere Spielstärke erfordern, eignen sich vermutlich als Hirntraining in der Prävention von Demenzerkrankungen.

Schach ist so reich an Möglichkeiten. Ist das Schach bei den so genannten Schachvereinen und -verbänden eigentlich in guten Händen? Sind das nicht vielmehr Normalschachvereine und Normalschachverbände, deren Kompetenz weitgehend auf Normalschach begrenzt ist, und die von Schachvarianten und -rätseln, auch von der Kultur und Geschichte wenig oder nichts verstehen?

Es gibt eine Domäne, in der das vielfältige Potenzial des Schachs entdeckt und genutzt werden. Es ist der kleinere, aber schnell wachsende Teil der Schulschachbewegung, der nicht darauf aus ist, Kinder in die Schachvereine zu bringen, sondern tatsächlich pädagogisch orientiert und motiviert ist. Wenn ich Lehrer für Schach fortbilde, empfehle ich kleine Spiele. Nicht nur solche, um die Regeln einzuüben, sondern auch Spiele, die etwas Zusätzliches vermitteln. Ein ganz einfaches Beispiel ist das Turmspiel.

Es gibt nur einen Turm. Den ziehen wir zu zweit abwechselnd. Der Turm dürfen wir ausnahmsweise nur vorwärts oder nach rechts ziehen, nie rückwärts oder nach links. Vertikal oder horizontal so viele Felder, wir wollen. Wer den Turm nach h8 zieht, gewinnt. Im Normalfall lernen die Kinder von Spiel zu Spiel dazu. Sie können sogar formulieren, was sie dazu gelernt haben. Das ist pädagogisch sehr wertvoll. Einige Kinder spielen das Turmspiel beim zweiten Mal perfekt. Einzelne durchschauen es sogar sofort. Turnierspieler sind gegenüber Kindern kaum im Vorteil. Ich habe welche erlebt, die es nach fünf Turmspielen noch nicht durchschaut haben.

Im Schulschach gehören für mich Rätsel auf dem Schachbrett und Schachvarianten unbedingt dazu. Wer von an Anfang vermittelt, dass es nur mit 32 Figuren und nach normalen Turnierschachregeln richtiges Schach ist, kann das alles vergessen. Dann sind viele Chancen, Kinder auf unterschiedliche Weise spielerisch zum Denken zu kriegen und ihre logischen, mathematischen und metakognitiven Fähigkeiten zu fördern, verschenkt. Ich glaube, an Schulen sollten eigentlich nur Polis Schach unterrichten. Auch Lehrer sollten nur von Polis fortgebildet werden. Normalos neigen dazu, bei Kindern und Lehrern für ihr allein richtiges Schach zu missionieren. Sollen sie doch ehrgeizige Normalos trainieren.

Beim Schach Jam an diesem Sonntag im Kühlhaus, dem Austragungsort des Kandidatenturniers, kommen Polis zu ihrem Recht. Man kann Fischerschach, Baskisches Schach, Tandemschach, Neoklassisches Schach und Hands & Brain ausprobieren. Go auf dem 9×9-Brett übrigens auch, denn es gehört sich einfach, dass Schachspieler, ob Normalo oder Poli, verstehen, worum es in dem anderen großen Strategiespiel geht. Es gibt Vorträge und wird diskutiert. Die übergreifende Frage lautet, wie man mehr Spaß in sein Schachleben bringt. Ich bin Mitorganisator und Moderator des Schach Jam und werde hinterher davon berichten. Normalos sind übrigens auch willkommen.


1 Lesermeinung

  1. easyrider01 sagt:

    Mit Verlaub, Herr Löffler
    Als ihre persönliche Meinung ist ihr Beitrag willkommen. Dass Normalschachspieler (Für mich immer noch Schachspieler!) Sie langweilen, ist ihr Problem. Ich bin auch kein Caruana, der 1 Million Züge im Kopf haben muss. Ich lerne täglich dazu, und für mich ist das normale Schachspiel schier unerschöpflich an Ideen und neuen Möglichkeiten. Die sogenannten Schach-Varianten, geboren aus der Langeweile der Internetprogrammierer, interessieren mich nicht die Bohne. Und für die Pädagogik gibt weiß Gott genügend bereits vorhandene kleine Spiele … dennoch viel Spaß beim Tandem, und bitte danach die Figuren wieder ordentlich einräumen, nur für mich. 😉

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