Warum spielt beim Kandidatenturnier eigentlich kein Deutscher mit? Warum hat es seit Robert Hübner in den späten Siebziger- und Achtzigerjahren kein Deutscher mehr an die Weltspitze geschafft? Der Hauptgrund ist, dass der Weg an die Weltspitze Zehntausende Stunden Training, Lernen und Spielpraxis erfordert. Man muss also früh voll auf Turnierschach setzen. Das ist mit der strengen deutschen Schulpflicht kaum vereinbar. Unter den acht Teilnehmern des Kandidatenturniers haben die meisten schon früh keine normale Schule mehr besucht. Zu einer akademischen Qualifikation haben es nur zwei Spieler gebracht, Alexander Grischtschuk hat die Sporthochschule und Ding Liren ein Jurastudium abgeschlossen (Korrektur: Ding war hier zunächst nicht genannt). Im deutschen Kontext ist es besonders riskant, Bildungschancen früh zu opfern, um voll auf Schach zu setzen. Denn das Einkommensgefälle im Turnierschach ist enorm.
Um die Verdienstchancen einzuordnen, muss man als Vergleichsmaßstab fairerweise einen ehrgeizigen Hochschulabsolventen heranziehen und über die ganze Berufslaufbahn rechnen. Nur Weltmeister erwirtschaften über ihre Laufbahn ein Mehrfaches wie ein motivierter deutscher Akademiker. Um annähernd gleich gut zu verdienen, muss man im Schach längere Zeit zu den ersten zehn bis fünfzehn gehören. Wer es zu einem überdurchschnittlichen Großmeister bringt, wird mit Turnierschach schon nur noch verdienen wie ein unterdurchschnittlicher Akademiker. Wer nebenbei als Trainer, Kommentator oder Autor arbeitet, kann sein Einkommen deutlich aufbessern, aber sportlich holt man so nicht alles aus sich heraus. Dabei wird die internationale Konkurrenz im Schach immer schärfer. Sie kommt zunehmend aus Ländern wie Indien oder China, wo die Verbände ihre Titelträger in gut dotierte Jobs schleußen können, was die Entscheidung für Schach doch erheblich erleichtert.
Wer in Deutschland früh auf Schach setzen will, braucht einen Plan B. Eine duale Karriereplanung, die Spitzenleistungen am Brett ermöglicht aber auch eine erfüllende Berufslaufbahn auf angemessenem Verdienstniveau, wenn es im Schach nicht für die Weltspitze reicht. Auch weil Quer- und Späteinsteiger in Deutschland schlechtere Berufsaussichten haben als beispielsweise im angelsächsischen Bereich, müsste sich das organisierte Schach damit ernsthaft befassen.
Wie es um Plan B der WM-Kandidaten steht, ist nicht bekannt. Was sie für ihre Teilnahme in Berlin erhalten dagegen schon. Der Letztplatzierte erhält 17.000 Euro, mit jedem Platz höher steigt das Preisgeld bis zu 95.000 Euro für den Ersten. Der ist dann aber vor allem an der Börse des im November anstehenden Titelkampfs beteiligt, die bei mindestens einer Million Euro liegen wird. Und richtig gut verdienen kann er, falls er Weltmeister wird. Aber erst einmal muss er das Kandidatenturnier gewinnen.
Fabiano Caruana hat unverändert die besten Chancen. Dabei wurde er in der elften Runde von Wladimir Kramnik bereits im fünften Zug mit einer so genannten Neuerung konfrontiert. Nach 1. d4 d5 2. c4 e6 3. Sc3 c6 4. e4 dxe4 5. Sxe4
zieht Schwarz gewöhnlich 5. … Lb4+, wonach Weiß die Wahl hat zwischen dem Gambit 6. Ld2 Dxd4 7. Lxb4 Dxe4+ und dem weniger verpflichtenden 6. Sc3. Doch Kramnik zog hier 5. … c5!?, was besonders abstrus wirkt, da doch der Springer c5 kontrolliert. Auf 6. dxc5 hatte Kramnik wahrscheinlich 6. … Dxd1+ 7. Kxd1 Sf6 und falls 8. Sd6+ Lxd6 9. cxd6 Se4 geplant. Nach einigem Grübeln erwiderte Caruana 6. Sxc5 Sc6, gab mit 7. Sf3 (7. Sb3 a5 8. a4 Lb4+ 9. Ld2 Sxd4) 7. … Sxd4 8. Dxd4 Dxd4 9. Sxd4 Lxc5 den Bauern zurück und nach 10. Sb5 Ke7 11. Ld2 Ld7 12. b4 Lxb5 entstand eine witzige Stellung mit zwei hängenden schwarzen Läufern:
Das war dann aber auch schon der interessanteste Teil dieser Partie, die die Remisbreite nie auch nur zu verlassen drohte, wurde wie die zwischen Caruanas engstem Verfolger Schachrijar Mamedscharow und Wesley So. Lewon Aronjan ist nun abgeschlagen Letzter, nachdem er bereits seine fünfte Niederlage kassierte. Sein Bezwinger Sergei Karjakin liegt nun nur noch einen Punkt hinter Caruana. Wenn er seine Weißpartie gegen den Amerikaner an diesem Samstag gewinnt, wäre er auf einmal selbst vorn. In seher ähnlicher Lage wie Karjakin mit gleicher Punktzahl und auch noch einer Weißpartie gegen Caruana, nämlich in der Schlussrunde am Dienstag, ist Alexander Grischtschuk. Der wurde von Ding Liren zwar überspielt, doch dann verpasste der Chinese mehrere Gewinnwege. Am schnellsten – und dabei sehr sehenswert – wäre es hier gegangen:
28. Sd8! droht 29. De8+ nebst Matt, und auf das e8 deckende 28. … Lc6 gibt 29. Txd5! Schwarz den Rest. Wie verhext hielt Dings Remisserie, obwohl ihn der Computer zeitweise 15 Bauerneinheiten im Vorteil sah, auch in seiner elften Berliner Partie (hier nachzuspielen).
Kandidatenturnier nach 11 von 14 Runden:
1. Caruana 7, 2. Mamedscharow 6,5; 3.-4. Grischtschuk, Karjakin 6, 5. Ding je 5,5; 6. Kramnik 5, 7. So 4,5, 8. Aronjan 3,5
Elfte Runde Samstag 23. März ab 15 Uhr. Liveübertragungen u.a. bei Chess24, bei Chessbase oder bei WorldChess.