Viel hatte Fabiano Caruana nicht von sich erwartet. Schließlich lagen zwischen seinem Sieg im 14 kräftezehrende Runden langen Kandidatenturnier und dem Grenke Classic nur ein Tag voller Interviews, ein Tag im Zug und ein Tag, um sich an eine andere Stadt und ein anderes Hotelzimmer zu gewöhnen. Dagegen kamen fast alle seine Konkurrenten ausgeruht nach Karlsruhe. Also hatte sich der Amerikaner gesagt, er spiele das Turnier zum Spaß. Nun hat er das Grenke Classic, das nach drei Runden in Karlsruhe in Baden-Baden fortgesetzt wurde, mit einem Punkt Vorsprung gewonnen. Und nicht nur das: Genau sieben Monate vor seinem WM-Kampf gegen Magnus Carlsen hat er sich Platz zwei in der Weltrangliste zurückgeholt. Eine Schwäche hat der Herausforderer allerdings gezeigt.
In keiner seiner fünf Weiß-Partien beim Grenke Classic hat Caruana den Vorteil des ersten Zugs nutzen können. Im Gegenteil kam er gleich zu Beginn gegen Carlsen nahezu verloren aus der Eröffnung. Caruana hat diese schwierige Partie ebenso remis gehalten wie die in Runde sechs gegen Hou Yifan, die ihn mit seiner eigenen Haupteröffnung Russisch konfrontierte. Wollte Caruana Carlsen keinen Hinweis geben, welches Mittel gegen Russisch er am meisten fürchtet? Jedenfalls spielte er gegen sein Russisch so schlapp, dass die Chinesin angenehmener aus der Eröffnung kam und ihren Vorteil bald ausbauen konnte. Im Endspiel hätte sie einen hübschen Gewinnweg gehabt.
Mit 64. … Kd2 65. Lxa6 Sd3+!! 66. cxd3 d4! konnte die Chinesin einen Bauerndurchbruch auf der gerade noch von zwei weißen Bauern verrammelten c-Linie inszenieren. Der Bauer läuft auch nach 66. Kb1 Se1 67. Kb2 Sxc2 68. Lxb5 d4! 69. cxd4 (69. Lxc4 dxc3+ 70. Ka2 Sd4) 69. … c3+ 70. Ka2 Sb4+! 71. axb4 c2 durch. Stattdessen zog Hou das naheliegende 64. … a5. Caruana hielt remis.
Nur gegen Naiditsch, der in einer symmetrischen Bauernstellung nicht pragmatisch ein Remis ansteuern wollte, gelang Caruana ein Weißsieg. Umso besser lief es mit Schwarz. Da gewann er drei seiner vier Partien. Und zwar nicht durch Geschenke. Caruana überspielte seine Gegner. Darunter auch den elostärksten Spieler, der sich nicht für das Berliner Kandidatenturnier qualifiziert hatte. Gegen Maxime Vachier-Lagrave gewann er eine Musterpartie.
Vor der letzten Runde war die Ausgangssituation ähnlich wie beim Kandidatenturnier. Caruana führte mit einem halben Punkt vor zwei Verfolgern und hatte Schwarz. Wie in Berlin gegen Grischtschuk spielte er nun gegen Nikita Witjugows 1.e4 Russisch – also 1. … e5 2. Sf3 Sf6. Und wie viel Leben in dieser vermeintlichen Remiseröffnung steckt! Witjugow wählte wie Grischtschuk die Variante 3. d4 Sxe4 4. dxe5 d5 5. Sbd2. Caruana tauschte dieses Mal nicht die Springer, was die weiße Entwicklung voranbringt, sondern reagierte mit dem kuriosen neuen Zug 5. … Dd7!?
Nun hat Schwarz 6. Sxe4 dxe4 nicht zu fürchten, weil er die Dame mit dem Springer statt dem König schlagen kann. Auf 6. Ld3 aber hat er 6. … Sc5, wonach der Springer auf d2 vorerst dem Läufer im Weg steht. 5. … Dd7 wurde ihm auf der Fahrt von Berlin nach Karlsruhe vom Computer angezeigt, und schon wegen des Überraschungswerts wollte Caruana das einmal ausprobieren. Es hat sich bewährt. Er gewann überzeugend. Im anschließenden Interview erklärte er unter anderem, warum er froh ist, dass seine neue Elo 2819 eine Primzahl ist:
Gegen Witjugow war es binnen einem Monat bereits sein dritter Sieg mit Russisch gegen einen Russen. Den wichtigsten hatte er in Runde vier des Kandidatenturniers gegen Kramnik eingefahren. Kramnik war es übrigens, der diese Eröffnung vor zwanzig Jahren zurück in die absolute Weltklasse holte. Allerdings hat Caruana auch seine einzige Niederlage diesen Monat mit Russisch gegen einen Russen kassiert, als er nämlich gegen Karjakin ganz unpraktisch ein Qualitätsopfer zuließ, nach dem er bedauerte, sich die Stellung nicht von der anderen Brettseite angeschaut zu haben, weil er sonst rechtzeitig entdeckt hätte, dass sie sich für seinen Gegner viel leichter spielte als seine eigene.
Russisch zu knacken dürfte für Magnus Carlsen und sein Team in den nächsten Monaten ziemlich weit oben auf der To-Do-Liste stehen. Mit der möglichen Folge, dass Carlsen anders als gegen Karjakin im nächsten WM-Kampf nicht vorrangigg mit 1. e4 eröffnen wird, aber vielleicht auch, dass ihm Caruana auf 1. e4 etwas anderes als Russisch vorsetzen wird.
A propos Carlsen. Zwei Siege und sieben Remis reichten im Grenke Classic zum ungeteilten zweiten Platz. Zufrieden war er nicht, aber das ist er ja nie, wenn ein anderer das Turnier gewonnen hat. Gegen Georg Meier hätte er hübsch verlieren können. An seinem Sieg gegen Arkadi Naiditsch verlor er zwischenzeitlich die Lust, als er erkannte, dass er stärker hätte spielen können. Schwamm drüber, bis zu seinem nächsten Turnier ist es nur eine Woche.
Carlsen spielt ab 18. April im aserbaidschanischen Schamkir, ab Ende Mai in Stavanger und im Juli in Biel. An der Grand Chess Tour nimmt er heuer nicht teil, so dass man ihn wohl bei der Schacholympiade erwarten darf. Auf Caruanas Terminkalender stehen ab kommenden Dienstag die US-Meisterschaften in St. Louis, wo er selbst seit drei Jahren wohnt. Darauf folgt Stavanger, anschließend die Schnellturniere der Grand Chess Tour in Paris und Leuven und dann der Sinquefield Cup wieder in St. Louis. Dass er danach auch dem US-Team zur Verfügung stehen wird, um bei der Schacholympiade im September in Batumi den Titel zu verteidigen, ist zumindest zweifelhaft.
Vor dem am 9. November anstehenden WM-Kampf steht also zumindest noch eine Begegnung zwischen Weltmeister und Herausforderer in Stavanger an. Gut möglich, dass Russisch aufs Brett kommt.