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Großmeister leben länger

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Wer Großmeister wird, hat eine um mehr als sieben Jahre höhere Lebenserwartung als der Durschnitt der Bevölkerung. Das ergab eine in der Public Library of Science Studie von An Tran-Duy, David Smerdon und Philip Clarke, die die biografischen Daten von Großmeistern einzeln mit der gleichen Alterskohorte im gleichen Land abgeglichen haben.

Bevor der Meisterspieler Zoltan Sarosy vorigen Sommer mit 110 Jahren starb, war er der älteste Mann in Kanada. Johan van Hulst galt als stärkster Schachspieler unter den niederländischen Politikern und hielt traditionell die Abschlussrede beim Schachfestival in Wijk aan Zee, bevor er im März mit 107 Jahren dahinschied. Die georgische Großmeisterin Nino Churtsidse allerdings verlor im April mit 42 ihren Kampf gegen den Krebs. Wugar Gaschimow, dem in der aserbaidschanischen Stadt Schamkir kürzlich mit einem Eliteturnier gedacht wurde, erlag schon mit 27 einem Gehirntumor. Dagegen erfreut sich der älteste lebende Großmeister Juri Awerbach mit 96 noch guter Gesundheit, wie seine Präsenz bei Schachanlässen in Moskau bezeugt. Awerbachs Vorgänger Andor Lilienthal wurde 99. Der letzte verstorbene Weltmeister Wassili Smyslow hat seinen 89. Geburtstag noch erlebt. Immerhin die 85 überschritt der zweimalige WM-Finalist Viktor Kortschnoi, obwohl er als Kind in St Petersburg hungerte und lange Kettenraucher war. Freilich sind das alles Einzeldaten, und die ergeben nunmal kein Gesamtbild.

Die bisher einzige wissenschaftliche Arbeit zur Lebenserwartung starker Schachspieler erschien 1969 im Journal of Genetic Psychology. Herman Berry kam damals zu dem Schluss, dass Schachmeister jünger starben als andere, die in ihrem Leben Anerkennung gefunden hatten, etwa als Politiker, Schriftsteller oder Wissenschaftler. Berry erklärte es mit den Anstrengungen des Wettkampfs. Allerdings war seine Stichprobe mit 32 Spitzenspielern eigentlich zu klein. Da fiel bereits ins Gewicht, dass die beiden Weltmeister Alexander Aljechin und José Raúl Capablanca nur 53 wurden.

Tran Duy, Smerdon und Clarke haben für ihre Studie die Daten von 1208 Großmeistern herangezogen. Außerdem die von 15 157 olympischen Medaillengewinnern. Deren Daten hatte der Gesundheitsökonom Clarke schon 2012 ausgewertet und dabei die höhere Lebenserwartung erfolgreicher Olympiateilnehmer belegt. Nun wollten er und seine Kollegen wissen, wie Denksportler im Vergleich zu olympischen Sportlern abschneiden.

Dass für den Vergleich Schach herangezogen wurde, lag einerseits an der zuverlässigen Datenquelle der Elo-Weltranglisten, andererseits an David Smerdon. Nach einigen Jahren als Doktorand und Postdoc in Amsterdam ist der australische Großmeister und Verhaltensökonom nämlich kürzlich für eine Assistenzprofessor an der Uni Melbourne in seine Heimat zurückgekehrt.

Erfolgreiche Schachspieler haben eine ähnlich erhöhte Lebenserwartung wie erfolgreiche Sportler. Das liegt aber zunächst einmal nicht am Schach selbst. Großmeister sind höher gebildet und intelligenter als der Rest der Bevölkerung und wachsen wohl auch seltener in armen und schon gar nicht bildungsfernen Familien auf. Teils ist das eine Folge besserer genetischer Voraussetzungen. Zur höheren Lebenserwartung trägt auch bei, dass der Titel Anerkennung und Einkommen mit sich bringt und dem Selbstbewusstsein förderlich ist.

In die Stichprobe kamen nur Großmeister, für deren Länder und Geburtsjahrgänge belastbare Vergleichsdaten vorlagen. Fast sechzig Prozent der erfassten Großmeister sind aus Osteuropa. In Russland und der Ukraine ist die höhere Lebenserwartung von Großmeistern besonders ausgeprägt. Sie neigen nämlich in deutlich geringerem Maß zu Alkoholismus und Nikotinsucht als die sonstige männliche Bevölkerung.

Zusätzlich motiviert werden können Lebensstilentscheidungen durch Schachziele. Um Großmeister zu werden, nehmen viele Spieler einen disziplinierten Lebensstil an, sagt Smerdon. Er selbst habe seinen Alkoholkonsum eingeschränkt und mehr geschlafen. Andere treiben gezielt Sport und passen ihre Ernährung an. Sich nach den Partien an der Bar zu treffen, ist unüblich geworden. Die hohe Konkurrenz im Schach sorgt dafür, dass sich Spieler heute weniger auf ihr Talent und pures Schachtraining verlassen und zunehmend auf ihre Fitness und Ernährung achten. Obwohl Schach sowohl im Wettkampf als auch im Training mit viel Sitzen verbunden ist, sind junge Spieler heute fitter als die übrige Jugend, wie eine polnische Studie zeigte.

Smerdon findet plausibel, dass diejenigen, die zwar das Talent zum Großmeistertitel haben, ihn aber nicht erreicht haben, entweder gesundheitliche Einschränkungen mitbringen oder aber nicht bereit sind, jene Lebensstilanpassungen machen, die sowohl dem sportlichen Erfolg als auch ihrer Gesundheit zugute kommen. Wenn, worauf vieles hindeutet, Denksport Demenzkrankheiten vorbeugt oder zumindest ihren Ausbruch verzögert, läge auch darin ein Beitrag von Schach für eine erhöhte Lebenserwartung.

In einer begleitenden Veröffentlichung in The Conversation zitieren die Autoren Isaac Asimov, dass das Spiel des Lebens nach dem Schachmatt weitergeht, und sie ergänzen, dass erfolgreiche Schachspieler gute Aussichten haben, dieses Spiel länger zu spielen.


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