Eigentlich wollte Fabiano Caruana gar nicht in Stavanger antreten. Dafür, dass ihn im November das wichtigste Match seiner Karriere erwartet, ist sein Terminkalender zu voll. Doch die norwegischen Veranstalter wollten nicht wie 2016, als Sergei Karjakin kurz vor dem Turnier ausbüchste, wieder ohne Carlsens nächsten WM-Herausforder dastehen. Also überredeten sie Caruana, die Reise anzutreten. Wahrscheinlich hat er es zwischenzeitlich bereut. Auf dem Weg machte der 25jährige Amerikaner in Baden-Baden Halt, um für seinen deutschen Verein im Stichkampf um die Deutsche Meisterschaft anzutreten. Sein Team gewann zwar, doch er verlor gegen Anish Giri. Zusammen mit seinem Sekundanten Rustam Kasimdschanow in Stavanger angekommen wurde er gleich in Runde eins gegen Carlsen gelost. Auch diese psychologisch so aufgeladene Begegnung mit dem Weltmeister verlor Caruana. Für seine mentale Stärke spricht, dass er das nominell bestbesetzte Einladungsturnier 2018 am Ende trotzdem gewann.
Es war Glück dabei. Caruana ist der erste, der es zugibt. Vor der letzten Runde war er punktgleich mit Carlsen, Nakamura und seinem Letztrundengegner Wesley So. Carlsen machte mit seinem Trainingspartner und wahrscheinlichen WM-Sekundanten Maxime Vachier-Lagrave bereits nach zwanzig Minuten remis. Caruana dagegen stand gegen So bei entgegengesetzten Rochaden zeitweise stark unter Druck. Ausgerechnet, als So die Zeitkontrolle überstanden hatte, verzichtete er darauf, sich erst einmal zu sammeln, sondern feuerte binnen Sekunden einen Verlustzug aufs Brett:
41. … Td3? nämlich. Natürlich nahm Caruana nun nicht den Springer (42. hxg4?? Txh3+ 43. Kg2 Dg3+ 44. Kf1 Df3+ 45. Df2 Th1 matt) sondern zog 42. Dg2. Schwarz konnte zwar seine Dame erobern (statt 42. … Tg3 ging es auch mit 42. … Txh3+ 43. Dxh3 Sf2+), aber Caruana hatte mit zwei Türmen und einem Läufer weit mehr als genug (Partie nachspielen – oder auf Video kommentiert von Peter Swidler). Stattdessen erzwang in der Diagrammstellung 41. … Td2! das Remis: 42. hxg4 hxg4 43. Dg2 Dh8+! 44. Kg1 Txg2+ 45. Kxg2 Dh3+ 46. Kf2 Df3+ hätte zum Dauerschach geführt. Caruana, So, Carlsen, Nakamura und Anand wären dann mit je 4,5 Punkten aus 8 Partien punktgleich vorne gewesen, und zu fünft hätten sie an diesem Freitag den Sieger im Blitz ausstechen müssen. Dank dem Geschenk von So war Caruana mit fünf Punkten Alleinsieger – nach dem Kandidatenturnier und dem Grenke Classic sein dritter großer Turniersieg dieses Jahr.
Damit hatte er nach der Auftaktniederlage wohl zuletzt gerechnet. Carlsen war Caruanas Russisch (1. e4 e5 2. Sf3 Sf6) mit einem Läuferspiel (1. e4 e5 2. Lc4) aus dem Weg gegangen und hatte hier ein interessantes Bauernopfer gebracht:
16. d4!? e4 17. Se5 Sxe5 18.dxe5 Txe5 19. Dd4. Danach spielte sich die Stellung leichter für Weiß. Als er auf b4 den Bauern zurück bekam, ohne die Blockade des schwarzen d-Bauern aufgeben zu müssen, gelang es Caruana anders als im April in Karlsruhe nicht mehr sich herauszuwinden, und das Spiel war in höherem Sinn zugunsten Carlsens entschieden (Partie nachspielen).
Falls sie nicht, was eher Zufall wäre, bei der Schacholympiade Ende September, Anfang Oktober im georgischen Batumi aufeinandertreffen, war es ihre letzte Begegnung am Brett vor dem Titelkampf. Der Grand Chess Tour in Leuven, Paris und Saint Louis bleibt Carlsen dieses Jahr nämlich fern. Dafür zeigt sich der Weltmeister im Juli mal wieder in Biel.
Überschattet wurde „Norway Chess“ heuer von einem Fahrradunfall Ding Lirens, der sich einer Hüftoperation unterziehen und das Turnier abbrechen musste. Mamedscharow plagten Zahnschmerzen. Ein spielfreier Tag ist in Stavanger stets für ein besonderes Erlebnis reserviert. Dieses Mal gab es für die Weltklassegroßmeister einen Kochkurs und -wettbewerb.
Der Weltmeister führte das Turnier nach seinem Auftaktsieg alleine an. Alles sprach dafür, dass er nach Wijk aan Zee und Schamkir sein drittes klassisches Turnier dieses Jahr gewinnen würde – bis er auf Wesley So traf. Carlsen hatte sich zuvor gebrüstet, dass er gegen den mangels Team und pointierter Eröffnungsvorbereitung oft harmlos agierenden Amerikaner eigentlich nicht verlieren konnte. Ausgerechnet nach der als besonders remisträchtig geltenden Slawischen Abtauschvariante (1. d4 d5 2. c4 c6 3. cxd5 cxd5) und obwohl er nach Öffnung der Stellung das Läuferpaar hatte, wurde er vor seinen Landsleuten vorgeführt (Partie nachspielen) – und in der letzten Runde, wie schon geschildert, von Caruana überholt.
Der ist in der Weltrangliste nun mit 2822 Elopunkten die unbestrittene Nummer zwei vor Mamedscharow (2800) und hinter Carlsen (2842). Wie Peter Doggers anführt, erwartet uns erstmals seit den Duellen zwischen Kasparow und Karpow (1984-1990) ein WM-Kampf zwischen den derzeit wohl unbestritten führenden Spielern des Planeten.