Leuven, Paris, vorher Berlin und Stavanger, demnächst St Louis. Die Schauplätze wechseln, die Protagonisten bleiben die gleichen: Sie heißen Anand, Aronjan, Caruana, Karjakin, Mamedscharow, Nakamura, So und Vachier-Lagrave. Binnen der letzten vier Wochen haben sie 72 Turnierpartien mit klassischer, schneller und Blitzbedenkzeit gespielt – ganz überwiegend gegeneinander. Zu diesem elitären Klub gehört eigentlich auch Grischtschuk, der einmal nicht dabei war und daher 18 Partien weniger auf dem Buckel hat. Im August erwarten diese neun Profis nochmal 36 Turnierpartien. Wieder fast nur gegeneinander. Sechs der Genannten trafen auch schon beim Kandidatenturnier im März je zweimal aufeinander. Am Sonntag in Paris häuften sich die Patzer, dass das Zuschauen wehtat. Selbst Nakamura, der diesen zur Grand Chess Tour zählenden Wettbewerb gewann, erklärte sich anschließend für schachmüde und urlaubsreif. Zum faden Beigeschmack kommt, dass Weltmeister Carlsen dem Klub heuer fernbleibt.
Die Grand Chess Tour ist eine Erfindung von Garri Kasparow. Als der Exweltmeister vor vier Jahren darum kämpfte, die Macht im Weltschachbund zu übernehmen, wollte er durch eine internationale Turnierserie mit allen Stars des Spiels aufzeigen, dass es im Westen potente Geldgeber für Schach gab, die nur darauf warteten, sich bei der FIDE zu engagieren, wenn endlich der umstrittene Präsident Iljumschinow weg wäre.
Im ersten Jahr 2015 vereinte die Grand Chess Tour drei Rundenturniere in Stavanger, St. Louis und London mit langer, inzwischen als klassisch bezeichneter Bedenkzeit. Doch die Struktur hielt nur eine Saison. 2016 stiegen die Norweger aus, weil sie ihr Feld lieber selbst zusammenstellen wollten. Die Grand Chess Tour fand ersatzweise Geldgeber in Belgien und Frankreich. Statt einem Turnier mit klassischer Bedenkzeit organisierten sie jeweils ein kürzeres Turnier mit kürzerer Bedenkzeit. So wurde die Tour zu einer Mischung aus je zwei Turnieren mit klassischer Bedenkzeit und zwei Turnieren, die Schnellschach und Blitzschach kombinieren.
2017 kam ein dritter kombinierter Schnell- und Blitzwettbewerb dazu, der im Anschluss an das klassische Turnier in St Louis stattfand. Heuer ist St Louis das einzige klassisches Turnier der Tour. In London wartet am Ende der Tour kein Rundenturnier mit klassischer Bedenkzeit sondern ein verkürzter Wettbewerb in London mit den vier bis dahin Punktbesten. In einem Halbfinale und Finale stehen jeweils klassisches, Schnell- und Blitzschach auf dem Programm.
Alles zusammenzuwerfen passt zu einer anderen Idee Kasparows, nämlich einem „universellen Ratingsystem“, das Partien mit klassischer, schneller und Blitzbedenkzeit vereint auswertet. Die FIDE hat dafür drei getrennte Weltranglisten. Doch selbst in Zusammenhang mit der Grand Chess Tour findet die universelle Rating kaum Beachtung. Dafür bemerkten viele, dass Sergei Karjakin so erfolgreich blitzte, dass er zwischenzeitlich kurz davor war, Carlsen in der Blitzweltrangliste der FIDE von Platz eins zu verdrängen, bevor er zwei spektakuläre Niederlagen gegen Maxime Vachier-Lagrave und gegen Schachrijar Mamedscharow (mal wieder mit einem wilden g-Bauern) kassierte. Am zweiten Blitztag, dem letzten Tag in Paris (alle Partien zum Nachspielen), glückte Karjakin dann kaum noch etwas.
Am stärksten und konsistentesten spielte in Paris Hikaru Nakamura. Die drei Tage Schnellschach schloss er auf Platz zwei ab, wobei er Vishy Anand in einer eindrucksvollen Kampfpartie besiegte. Hier startete Nakamura mit 43. … Kh6 zum Königsmarsch ins weiße Lager.
Im Blitzen zog Nakamura dann an allen vorbei, während Wesley So vom ersten auf den dritten Platz zurück fiel. Der Amerikaner, der im Kandidatenturnier mangels Trainern und Sekundanten keine Rolle spielte, zeigte sich bei beiden Turnieren im Schnellschach nun von seiner besten Seite. Vorige Woche im belgischen Leuven war er dabei so stark, dass sein Vorsprung auch über seine schwächere Disziplin, das Fünf-Minuten-Schach, hielt. Nach zwei Turnieren führt So, der die Tour schon einmal 2016 gewann, die Gesamtwertung vor Nakamura und Karjakin an. Auch Lewon Aronjan und Maxime Vachier-Lagrave haben noch gute Chancen, unter die ersten vier zu kommen und sich für das Abschlussturnier im Dezember in London zu qualifizieren.
Die Grand Chess Tour folgte anfangs dem Vorbild des Weltcups vor dreißig Jahren. Auf die Beine stellte ihn die damals aktive Grand Master Association. Die sechs Turniere der 1988 und 1989 über einen Zeitraum von 18 Monaten laufenden Serie setzten damals neue Maßstäbe. Eine zweite Weltcupserie wurde 1991 abgebrochen, weil der damals dominierende Garri Kasparow im Streit ausschied, was auch das baldige Aus für Grand Master Association einläutete.
Nun ist es Carlsen, der abgesagt hat. Dass sich der Norweger für kurz nach seinem WM-Kampf nicht zum Tourturnier in London verpflichten wollte, ist auch der tiefere Grund für den verkürzten neuen Modus in London. 2015 und 2017 hat der Weltmeister die Tour gewonnen. Schon im letzten WM-Jahr 2016 waren ihm vier Tourtermine zu viel. Damals sagte der Weltmeister wenigstens für die beiden Schnell- und Blitzturniere zu und wurde dafür mit Wildcards nominiert. Heuer steht im November wieder ein WM-Kampf an, und dieses Mal lässt Carlsen die Tour gleich komplett aus. (Update: Das stimmt nicht mehr. Carlsen hat eine Wildcard für St. Louis angenommen.)
Ein anderer Name, den man auf der Grand Chess Tour vermisst, ist Ding Liren. Beim Kandidatenturnier in Berlin blieb der Chinese als einziger ungeschlagen und empfahl sich mit ansehnlichem Spiel, öfter eingeladen zu werden. Zudem rückte auf Platz vier der Weltrangliste vor. Im Unterschied zu Ding wenigstens eine Einladung hatte Wladimir Kramnik, der in Berlin mit wagemutigem Spiel viel beitrug, dass das Kandidatenturnier als eines der interessantesten Turniere überhaupt in die Schachgeschichte einging. Dem Russen war die ganze Tour aber zu viel. So bekam er für Paris eine Wildcard. Bewährt hat es sich nicht. Am Ende bewahrte Kramnik den anderen Berliner Helden Fabiano Caruana vor dem zweifelhaften Los, in Paris Letzter zu werden.
Schon in Leuven war dem Amerikaner anzumerken, dass er eigentlich lieber woanders wäre, nämlich bei der Vorbereitung auf seinen WM-Kampf im November gegen Carlsen. Sowohl in Leuven als auch in Paris zeigte er sich nur an einem der fünf Tage in Form, nämlich am jeweils dritten Tag des Schnellturniers. Unter den neun Stammspielern der Tour ist Caruana im bisherigen Classement Letzter. Es wäre keine Überraschung, wenn er – die Zustimmung seines persönlichen Sponsors und Geldgebers der nächsten Grand-Chess-Tour-Station St Louis Rex Sinquefield vorausgesetzt – sich mehr Zeit nimmt, WM-fit zu werden und seinen Platz an Sam Shankland abtritt. Amerikas Nummer vier hat bisher ein fantastisches Jahr mit einer Eloleistung über 2800 und würde wohl zu gerne sein erstes Weltklasseturnier bestreiten. Zudem macht es, nachdem Carlsen die Wildcard für St. Louis bekommen hat, Sinn, dass Caruana ihm kurz vor dem WM-Kampf aus dem Weg geht.
Caruanas einem WM-Herausforderer wenig würdiges Abschneiden, Carlsens weitgehendes Fehlen, häufige Regeländerungen und zunehmende Kritik an dem eingeschränkten Feld nähren Spekulationen, ob die Grand Chess Tour ein Auslaufmodell ist. Zumal ein bei ihrer Gründung wichtiges Motiv nun wegfällt: Die Tour muss nicht länger eine Alternative zur Iljumschinow-FIDE-Welt bieten.
Der Russe wird bei der Präsidentenwahl im Oktober nämlich nicht mehr antreten. Offiziell hat er seinen Rückzug zwar noch nicht erklärt. Doch er darf als sicher gelten, nachdem er dem Kremlpolitiker Arkadi Dworkowitsch, der kürzlich seine Kandidatur angekündigt hat, sein Team vorgestellt – oder darf man schon sagen: überlassen? – hat. Iljumschinows wertvollster verbliebener Verbündeter, der Präsident des Afrikanischen Schachverbands Lewis Ncube, ist bereits bei Dworkowitsch untergeschlupft.