Berührt, geführt

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Oh shit, ich bin seiner Variante!

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Die zweite Partie verlief unter weitgehend umgekehrten Vorzeichen wie die erste. Dieses Mal kam Fabiano Caruana der Vorbereitung des Weltmeisters zuvor, in dem er eine Variante auspackte, die in den Siebzigerjahren gespielt wurde und dann in Vergessenheit geriet. Magnus Carlsen verstand, was die kritische Erwiderung war, doch er wollte den Kampf auf keinen Fall da suchen, wo sein Herausforderer sich besser auskannte. Später verwarf Carlsen ein Springeropfer auf f7, weil er ahnte, dass Caruana auch das analysiert hatte. Dabei hätte Carlsen die Figur leicht zurückerhalten und vielleicht sogar etwas Initiative behalten. Stattdessen manövrierte er sich in ein schlechteres Endspiel und musste sich von Caruana quälen lassen. Zur allgemeinen Erleichterung dauerte es nicht annähernd so lange wie umgekehrt am ersten Tag, bis das Remis perfekt war.

Am Freitag hatte Carlsen Caruana mit seinem neunten Zug überrascht. Nun in der zweiten Partie (hier nachzuspielen) war es am Herausforderer, Carlsens Vorbereitung zuvorzukommen. In dieser Stellung des klassischen Damengambits mit 5. Lf4 wird fast ausschließlich 10. … Te8 oder 10. … Le7 gespielt. Caruana aber zog 10. … Td8.

Gut zwanzig Minuten dachte Carlsen daraufhin nach und musterte zwischendurch auffällig lange seinen Gegner, als ob er in dessen Gesicht seine Absichten lesen konnte, bevor der sich in den Ruheraum zurückzog. Nach der Partie gefragt, was er hier dachte, sorgte Carlsen mit seinem spontanen: „Oh shit!“ humorvoll für Aufschluss.

Dass 11. Sd2 der kritische Test ist, war ihm klar, aber er wollte sich nicht darauf einlassen. Gut möglich, dass Caruanas Team folgendes wilde Abspiel präpariert hatte: 11. … d4 12. Sb3 Db6 13. Sa4 Lb4+ 14. axb4 Dxb4+ 15. Sd2 Da5 16. b3 Sb4 17. Db1 e5 18. Lg5 Lf5!!

(Analysevariante)

mit der hübschen Pointe 19. Dxf5? (19. e4 ist spielbar, aber Schwarz steht zumindest nicht schlechter) 19. … e4! 20. Dxa5 Sc2+ 21. Ke2 d3 matt. Der Finanz- und Schachjournalist Thorsten Cmiel, der für Chessbase in London ist, hat mir diese hübsche Variante gezeigt.

Carlsen entschied sich schließlich für die schnelle Entwicklung seiner Figuren angefangen mit 11. Le2. Einige Züge später hatte er die Gelegenheit, auf f7 reinzuhauen:

17. Sxf7 Kxf7 18. Lxd6 Txd6 19. Lh5+ Kg8 20. e4 und Weiß bekommt die Figur zurück. Vielleicht ist er nicht im Vorteil, aber Schwarz muss zumindest noch genau spielen. Wieder schreckte Carlsen vor den Komplikationen zurück, weil er ahnte, dass Caruana noch in seiner Vorbereitung war – was dieser später auch bestätigte. Stattdessen zog Carlsen 17. Lf3 und musste nach 17. … Sxf4 18. exf4 Lxe5 19. Txd8 Dxd8 20. dxe5 Dc7 21. Tb1 Tb8 22. Dd3 Ld7

mehrere schwache Bauern zusammenhalten. Bald verwaltete er – wie Caruana am Vortag – ein Turmendspiel mit einem Minusbauern:

Trotz der schlechten Bauernstellung war dies allerdings leicht remis zu halten, und nach nicht ganz vier Stunden wurde der Punkt geteilt.

Damit konfrontiert, dass in London bisher Schwarz am Drücker ist, sagte Caruana, „Schwarz hat mehr kreative Freiheiten. Mit dem Computer findet man immer neue Züge, die bisher nicht als spielbar galten.“ Zur ersten Partie trug er nach, dass er inzwischen feststellen konnte, dass er deutlich länger und klarer verloren gestanden hatte, als er am Brett ahnte. Carlsen stritt ab, dass er den verpassten Chancen nachtrauerte, und meinte „in einem solchen Match schaut man immer nach vorn“. Robert Hübner ist da anderer Meinung und sieht Caruana nach diesem Start in der psychologisch etwas besseren Ausgangslage.

Der Sonntag ist spielfrei. Montag 16 Uhr deutscher Zeit beginnt die dritte Partie.

 

 


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