Als Magnus Carlsen während Fabiano Caruanas Zeitnot seine mindestens vierte Chance ausließ, gleich die erste WM-Partie für sich zu entscheiden, realisierten Kommentatoren auf allen Kanälen: Jetzt wird es ein verdammt langer Abend. Glücklich, wer jetzt nicht pro Partie, sondern pro Stunde bezahlt wurde. Oder noch besser pro Zug. Erst nach 115 Zügen fügte sich Carlsen ins Remis. Am Ende fehlten nur neun Züge zur bisher längsten Partie in der Geschichte der Schachweltmeisterschaften zwischen Karpow und Kortschnoi. Oder sieben Züge zu Carlsens längster WM-Partie gegen Anand. Wobei sich laut Carlsen die aktuelle länger anfühlte, weil mehr Leben in dieser Partie war. Eine fünfte Gewinnchance gab ihm Caruana nicht mehr. Nach der Zeitnotphase hielt die Verteidigung des Herausforderers, der trotz der weißen Steine früh in die Defensive geraten war. Von den sieben Stunden, die das Spiel dauerte, stand er gut fünf Stunden mit dem Rücken zur Wand.

Als Promi für den zeremoniellen ersten Zug stellte sich wie schon vor zwei Jahren in New York Woody Harrelson zur Verfügung. Für die zahlreichen Fotografen hatte sich der Schauspieler einen Scherz ausgedacht. Beim Griff zu Caruanas Königsbauer warf er den weißen König um und ließ es wie ein Versehen aussehen. Einige Medien nahmen es dankbar auf. An den Spielern ging Harrelsons Stunt vorbei.
Caruana (der auch in der dritten, fünften, achten, zehnten und zwölften Partie Weiß haben wird) eröffnete wie meist mit dem Königsbauer. Carlsen antwortete nicht, wie er es sonst meist gegen ebenbürdige Gegner tut, mit 1. … e5 sondern zur Freude vieler Fans mit dem Sizilianisch-Zug 1. … c5, der zu zweischneidigeren Gefechten führt. Caruana verzichtete auf das öffnende d2-d4 und spielte, wie schon des öfteren, die sogenannte Rossolimo-Variante 3. Lb5.
2015 in Wijk aan Zee hatten die beiden diese Variante schon einmal auf dem Brett. Carlsen gewann damals mit Schwarz überzeugend. In die damalige Partiefolge hätte er im neunten Zug hier mit der kurzen Rochade überleiten können. Auch 9. … De7 wird oft gespielt. Auf beides hatte Caruana wahrscheinlich eine Vorbereitung parat. Doch Carlsen kam ihm mit seinem nächsten Zug zuvor: 9. … b6.
Der Springer braucht nun nicht länger den c-Bauern zu decken und kann sich sofort über f8 auf den Weg Richtung e6 machen, wo er sowohl nach d4 kann als auch den Vorstoß f2-f4 erschwert. Außerdem verzögert Carlsen die Rochade, um im Fall der Fälle den König auf den Damenflügel stellen zu können. Schließlich hat Weiß mit h2-h3 einen Angriffspunkt geschaffen, der es Schwarz erlaubt, mit g6-g5-g4 Linien gegen den weißen König zu öffnen. Es ist ein ehrgeiziger Plan, der schnell zu Komplikationen führt. Das unterstreicht ein Qualitätsopfer, das Judit Polgar wenige Züge später für Weiß vorschlug:
13. Sf3!? und auf 13. … Lh6 14. e5 mit tollen Aussichten auf den schwarzen Feldern. Caruana dürfte allerdings die stärkere Antwort 13. … g5! nicht gefallen haben, denn nach 14. Tf5 Lxf5 15. exf5 wäre die weiße Kompensation weniger klar. So zog er hier anstelle von Polgars 13. Sf3 zunächst 13. Tf2. Carlsen brachte seinen König darauf tatsächlich zum Damenflügel und preschte am Königsflügel vor – ohne falsche Angst vor den Schwächen, die auf seinen weißen Feldern entstanden.
Hier hätte er mit 21. … Thg8 nebst 22. … De6, eventuell gefolgt von Sd7-f8-g6-f4 seinen Vorteil ausbauen können. Stattdessen brachte er mit 21. … Sf8 22. Sxf6 Sg6 ein Bauernopfer, das die Kommentatoren fast einhellig lobten. Es funktionierte, weil Caruana kurz darauf zurückschreckte, selbst etwas zu investieren:
Das Qualitätsopfer 26. Txf4! Lxf4 27. Dxf4 und falls 27. … Dxf4 28. Txf4 Thf8 29. Txf8 Txf8 30. Kg2 sollte das Gleichgewicht halten. Caruana zog 26. Tg2, aber den schwarzen Angriff konnte er damit nicht dauerhaft bremsen. Nach 34. Sh2 ließ Carlsen erstmals ein gewinnträchtiges Manöver aus:
Carlsen verhinderte den entlastenden Damentausch durch 35. Dg4+ mit 34. …h5, was auch nichts verdirbt. Doch das nicht schwer zu sehende 34. … De5 nebst 35. … Dc3 oder falls 35. Kd2 Tg3 nebst Txh3 war noch stärker. Caruana war hier bereits in hoher Zeitnot, während Carlsen noch genügend Bedenkzeit hatte. Ein überzeugender Weg zum Sieg war für ihn auch vier Züge später möglich:
38. … Tg3! 39. Sxg3 hxg3 40. Te2 Da1, und der weiße Damenflügel fällt. Stattdessen zog Carlsen 38. … Le5 und nach 39. Kc2 Dg7 (besser 39. … b5!) 40. Sh2 (besser 40. Sd2) griff er auf c3 zu.
Dabei konnte Carlsen hier mit 40. … Dg1 auf den Erfolgspfad zurückkehren, weil 41. Sg4 an 41. … Da1 42. Sxe5 Tg1 scheitert. Nach 40. … Lxc3 41. Dxf4 Ld4 42. Df7+ wurden die Damen getauscht, und Caruana war aus dem Gröbsten heraus. Aus dem verbleibenden Vorteil ließ sich für Schwarz nur noch ein Mehrbauer in einem Turmendspiel herauspressen. Doch Caruana verteidigte sich zäh und hielt nach sieben Stunden das Remis.
Carlsen wusste sehr wahrscheinlich noch nicht, wie viele Gewinnwege er ausgelassen hatte, als er hinterher von einem „in Sachen Kampfschach exzellenten Matchbeginn“ sprach und mit einer aus dem Russischen stammenden Metapher ankündigte, „ich versuche auch weiterhin, jeden kleinen Tropfen Wasser aus dem Stein zu pressen.“