Oft – wenn natürlich auch nicht immer – ist die erste Partie richtungsweisend für den weiteren Verlauf eines Schachzweikampfes. Dies gilt hier umso mehr, als die Anzahl der Partien in den Weltmeisterschaftskämpfen auf zwölf Partien begrenzt worden ist. Als man noch 24 Spiele austrug, war eher die Möglichkeit gegeben, sich von einem Fehlstart zu erholen oder eine ungünstige Stimmungslage abzuschütteln. Angesichts der Bedeutung für die weitere Entwicklung der Ereignisse will ich versuchen, einige kritische Momente dieser ersten WM-Partie in London (hier kann man die Züge nachspielen) flüchtig zu besprechen und vorsichtige Schlüsse auf die Verfassung der Spieler daraus zu ziehen. Der unentschiedene Ausgang nach so vielen verpassten Chancen muss bei Carlsen Enttäuschung ausgelöst haben, Caruana wird er Auftrieb gegeben haben.
Robert Hübner, der diesen Beitrag vor der zweiten WM-Partie (ebenfalls remis) verfasste, gehörte als bislang letzter deutscher Spieler zur absoluten Weltspitze im Schach. 1980 stand er im WM-Kandidatenfinale und auf Platz drei der Weltrangliste. Bis 1991 war er drei weitere Male WM-Kandidat. Hübner wurde kürzlich mit der SG Luzern Schweizer Meister. Den 70. Geburtstag des Kölner Großmeisters, Altphilologen und Publizisten vor wenigen Tagen würdigte Jürgen Kaube. (Foto: dpa)
Fabiano Caruana – Magnus Carlsen
Erste WM-Partie, London, Sizilianisch
1. e4 c5 2. Sf3 Sc6 3. Lb5 g6 4. Lxc6 dxc6 5. d3 Lg7 6. h3 Sf6 7. Sc3 Sd7 8. Le3 e5 9. 0-0 b6
10.Sh2
Weiß strebt f2-f4 an, aber ich bin von diesem Plan nicht sonderlich begeistert. Dem schwarzen Königsläufer wird große Wirksamkeit eingeräumt; das zeigt sich im späteren Partieverlauf. Weiß kann keinen bedeutenden Druck auf der f-Linie entfalten. Ich würde versuchen, zunächst Spiel am Damenflügel zu entfalten. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten:
I 10. a4 mit der Absicht a4-a5; antwortet Schwarz 10. … a5, so kann Sf3-d2-c4 folgen.
II 10. a3 mit der Absicht b2-b4.
Eine vertiefende Untersuchung über den Wert der beiden Pläne ist hier natürlich nicht möglich. Meist ist an dieser Stelle 10. Dd2 gespielt worden.
10. … Sf8 11. f4 exf4 12. Txf4 Le6
Auch 12…Se6 13. Tf2 Sd4 14. Dd2 Le6 scheint mir gut spielbar zu sein. Carlsen strebt eine andere Aufstellung an.
13. Tf2 h6 14. Dd2 g5
Der Springer des Schwarzen kann ein wirksames Feld auf g6 finden; Schwarz wird weiterhin die Möglichkeit sowohl zur kurzen wie zur langen Rochade behalten.
15. Taf1 Dd6 16. Sg4?
Spätestens hier, besser schon vorher sollte Weiß meines Erachtens versuchen, den Schwarzen mit 16. a4 am Damenflügel zu beschäftigen, um die lange Rochade weniger attraktiv zu machen. Nach 16. … a5 kann er mit 17. De2 oder mit 17. Sf3 fortfahren; bei dem in der Partie durchgeführten Springermanöver erhält der Königsläufer des Schwarzen ein prächtiges Feld auf e5. Caruana selbst führte seine späteren Probleme auf das missglückte Springermanöver zurück.
16. … 0-0-0 17. Sf6 Sd7 18. Sh5
Nach 18. Sxd7 Txd7 hat Weiß keine Möglichkeiten zur Gestaltung des Spiels; Schwarz kann mit Lg7-e5, f7-f6 nebst h6-h5 die Öffnung von Linien am Königsflügel vorbereiten und einen gefährlichen Angriff einleiten, ohne selbst irgendeiner Gefahr ausgesetzt zu sein.
18. … Le5 19. g4
Weiß wählt ein radikales Mittel, um die Initiative des Schwarzen am Königsflügel einzudämmen. Tatsächlich kann man ihm kaum etwas Besseres raten. So folgt zum Bespiel auf 19. Se2 die Antwort 19. … f5, und nach 20. exf5 Lf7 21. g4 Lxh5 22. gxh5 Sf6 steht Schwarz auf Gewinn.
19. … f6 20. b3
Unmerklich ist Weiß in eine unbequeme Stellung hineingerutscht. Der Partiezug vergrößert seine Probleme; er sollte mit 20. Tg2 stillhalten.
20. … Lf7 21. Sd1
Es scheitert 21. Sg7 an 21. … Lxc3 22.Dxc3 Dg3+.
21…Sf8?
Ich sehe keinerlei Grund für dieses Bauernopfer. Mit 21. … Thg8 22. De2 Kb7 kann Schwarz seine Stellung in aller Ruhe verstärken:
I 23. Tg2 Sf8 24. Ld2 Lxh5 25. gxh5 Se6. Weiß hat große Schwierigkeiten.
II 23. a4 De6 24. Tg2 (Auf 24. a5 folgt 24. … Lxh5 25.gxh5 g4 mit entscheidendem Angriff) 24. … Lxh5 25. gxh5 Dxh3 mit Bauerngewinn.
III 23. Ld2 Lxh5 24. gxh5 Ld4 25.Se3 Dg3+ ebenfalls mit Bauerngewinn.
Jetzt bekommt Weiß wenigstens Gegenspiel.
22. Sxf6 Se6 23. Sh5
Es sei auf die interessante Möglichkeit 23. Sd7 hingewiesen. Wenn Schwarz nicht einen seiner Läufer abgeben will, ist 23. … Lf4 erzwungen; nach 24. Sf6 ist es nicht einfach, weiterzukommen.
23. … Lh5?
Damit hatte es keine Eile. Nach 23…Lg6 hat Weiß keine nützlichen Züge, und der Druck gegen den Punkt e4 ist sehr unangenehm für ihn; Schwarz kann seine Stellung mit Kc8-b7 und Th8-g8 verbessern, ehe er auf h5 schlägt.
24. gxh5 Sf4 25. Lxf4 gxf4 26. Tg2?
Meines Erachtens sollte Weiß den unangenehmen Feind auf f4 sofort beseitigen: 26.Txf4
I 26. … Lxf4 27. Dxf4 Dxf4 28. Txf4 Tdf8 29. Tf8:+ (Auch 29.Tg4 kommt in Betracht) 29. … Txf8 30. Kg2, und Schwarz kann das Manöver Sd1-e3-f5 nicht verhindern; nach 30. … Tg8+ 31. Kh2 Tg5 32. Se3 Txh5 33. Sf5 muss er auf Grund der Drohung 34.h4 den h-Bauern aufgeben.
II 26. … Dd4+ 27. T4f2 Lg3 28. Se3 Lxf2+ 29. Dxf2 nebst Se3-g4, und die Festung des Weißen sollte halten.
Jetzt kann Schwarz seinen Angriff in aller Ruhe verstärken.
26. … Thg8 27. De2 Txg2+ 28. Dxg2 De6 29. Sf2 Tg8 30. Sg4 De8
Schwarz erobert den vorderen h-Bauern des Weißen und kann dann mit h6-h5 die g-Linie freiräumen. Die Lage des Weißen ist aufs neue äußerst schwierig.
31.Df3 Dxh5 32.Kf2 Lc7
33. Ke2?
Einzig 33. e5 bot Hoffnung auf Widerstand; Weiß muß den Pfahl im Fleische auf f4 unbedingt beseitigen. Nach 33. e5 Kb7 34. Sf6 Dh4+ 35. Ke2 Tg3 36. Dxf4 Dxh3 37. Tf2 Tg5 38. Th2 Txe5+ 39. Dxe5 Dxh2+ 40. Dxh2 Lxh2 41.Kf3 behält er Rettungsaussichten.
Jetzt wird Schwarz die Möglichkeit gewinnen, mit seiner Dame entweder über die g-Linie oder über die Diagonale h8-a1 entscheidend in die Stellung des Weißen einzudringen.
33. … Dg5 34. Sh2
Etwas zäher ist vielleicht 34.Df2 h5 35.Sh2 De5 36.Sf3 Db2. Der Springer ist auf dem idealen Blockadefeld angelangt, aber der Damenflügel des Weißen geht in die Binsen. Weiß steht auf Verlust; auf 37.Kd2 folgt 37. … c4 oder auch einfach 37. … Dxa2.
34. … h5
Noch einfacher ist 34. … De5 35. Df2 Db2 36. Kd1 Tg3, und Schwarz gewinnt.
35. Tf2
35. Df2 kann zur oben angegebenen Variante führen.
35. … Dg1
Auch 35. … Dg7 ist sehr stark, denn nach 36. Dxh5 Dc3 37. Kd1 Da1+ 38. Kd2 Tg1 oder 38. Ke2 Db1 bricht die Stellung des Weißen zusammen.
36. Sf1 h4?
Auch jetzt noch ist 36. … Dg7 die angewiesene Fortsetzung. Der Partiezug gibt das Feld g4 wieder frei, bereitet jedoch Tg8-g3 vor. Sein Nachteil besteht darin, dass Weiß wieder Gelegenheit zu 37.e5 findet. Schwarz hätte darauf drei Antworten:
I 37. … Kb7 38. Dxf4 Te8 39. Dg4 Txe5+ 40.Kf3 Dh1+ 41.Dg2. Weiß kommt zu Damentausch; die Stellung ist ausgeglichen.
II 37. … Te8 38. Kd2. Jetzt erfolgt auf 38. … Txe5 die Antwort 39. Tg2 Dd4 40. Dxc6 mit etwa gleichem Spiel.
III 37. … Lxe5 38. Dxc6+ Kb8 39.a4. Weiß steht zu Sf1-d2-f3 oder –e4 bereit; er wehrt sich.
Carauana greift die Gelegenheit jedoch nicht beim Schopf.
37. Kd2? Kb7 38. c3
38…Le5?
Unmittelbar zum Gewinn führt 38. … Tg3! 39. Sxg3 (39. De2 f3) 39. … hxg3:
I 40. Tf1 Dh2+ 41. De2 g2 42. Tf2 Dxh3 oder auch 42. … f3, und Schwarz gewinnt.
II 40. Tg2 Db1 41. d4 Dxa2+ nebst 42. … Dxb3 und Schwarz steht auf Gewinn. Der Turm des Weißen ist völlig außer Spiel; Schwarz läßt bei günstiger Gelegenheit seinen a-Bauern laufen.
39. Kc2 Dg7
Die Fortsetzung 39. … Tg3 ist hier nicht mehr so überzeugend. Nach 40. Sxg3 hxg3 41. Td2 Da1 42. d4 ist die Lage nicht klar. Zum Gewinn führt aber 39…b5. Damit verhindert der Nachziehende 40. Kb2, und Weiß hat keine fruchtbaren Züge: Springerzüge scheitern natürlich an 40…Da1. Und 40. Th2 wird schon entscheidend mit 40. … Dg7 beantwortet. Es ist in der Tat eine Art Zugzwangsstellung bei noch gut gefülltem Brett.
40.Sh2 Lxc3?
Mit dem letzten Zug vor der Zeitkontrolle gibt Carlsen den Gewinn endgültig aus der Hand. Richtig ist 40…Dg1, und nun:
I 41. Sg4 Da1 42. d4 (42. Sxe5 Tg1) 42. … Dxa2+ 43. Kd3 Dxb3, und Schwarz gewinnt: 44.dxe5 Td8+ 45. Ke2 Dd1 matt oder 44. Sxe5 Tg3.
II 41. Sf1 b5 führt zur gleichen Variante wie schon zwei Züge vorher oben angegeben.
41. Dxf4
Weiß hat nicht nur diesen Störenfried abgeschafft; noch wichtiger ist es, dass Schwarz nicht dem Damentausch entkommen kann. Weiß rettet sich.
41. … Ld4 42. Df7+ Ka6 43. Dxg7 Txg7 44. Te2 Tg3 45. Sg4 Txh3 46. e5 Tf3 47. e6 Tf8 48. e7 Te8 49. Sh6 h3 50. Sf5 Lf6 51. a3 b5 52. b4 cxb4 53. axb4 Lxe7 54. Sxe7 h2 55. Txh2 Txe7
Von dieser Zugfolge nach der Zeitkontrolle konnte Schwarz nicht zu seinem Vorteil abweichen. Es ist ein Turmendspiel entstanden, das Weiß leicht halten kann. Die Partie wurde nach weiteren 60 Zügen remis gegeben.
Welchen Eindruck hat die Leistung der beiden Spieler hinterlassen? Carlsen war sicherlich gut beraten, als er die Sizilianische Verteidigung wählte. Erstens hat Caruana in der Vergangenheit bei seinen Weißpartien in dieser Eröffnung die größten Unsicherheiten gezeigt. Zweitens war er hierauf sicher nicht am gründlichsten vorbereitet. Und drittens ist es im Sizilianer Schwarz, der die Grundstruktur der Stellung bestimmt (anders als etwa in der Königsindischen Verteidigung, wo Weiß das Abspiel wählen kann, das die Grundrichtung der Partie festlegt).
Die Partieanlage von Carlsen war sehr fein. Man kann erahnen, dass einiges davon auf häuslichem Fleiß beruht. Als er jedoch eine äußerst vorteilhafte Stellung erreicht hat, beginnt er, sich zu überhasten (21 … Sf8, 23. … Lxh5). Er erreicht wiederum Gewinnstellung, und diesmal geht er zu zögernd vor (36. … h4? und insbesondere 38. … Le5?). Als die Gewinnführung schon tiefes Eindringen in die Stellungsmerkmale erfordert, ist die Zeitkontrolle nahe, so dass es ihm an Zeit gebricht, das richtige Vorgehen zu finden.
Ich habe den Verdacht, dass sich Carlsen nicht in seiner besten Form befindet. In letzter Zeit war es häufiger zu beobachten, dass er sich allzu sehr darauf verließ, die Gegner lediglich mit überlegener Technik schlagen zu können; dies glückte nicht immer, wie sich etwa im Juli beim Turnier in Biel zeigte.

Caruana geriet in Schwierigkeiten, ohne dass man ihn eines groben Fehlers bezichtigen kann. Anscheinend war 16. Sg4 die Hauptursache dafür, dass die Struktur seiner Stellung unbefriedigend wurde. In schwieriger Lage fand er wohl nicht immer die besten Lösungen (20. b3; 26. Tg2?). Nachher gebrach es ihm schon an Bedenkzeit. Wenn ich richtig informiert bin, hatte er nach dem 30. Zug kaum mehr als 30 Sekunden pro Zug, so dass es nicht erstaunlich ist, dass er einige Male fehlgriff (33. Ke2; 37. Kd2; auch in der Partie Kramnik-Caruana beim Kandidatenturnier Berlin im März waren seine Königsmanöver unglücklich).
Es sieht für mich so aus, dass Caruana nicht ganz von einer gewissen Nervosität frei war. Ein Weltmeisterschaftskampf ist ein anderes Erlebnis als jedes andere schachliche Ereignis. Ohnehin fehlt Caruana Erfahrung in längeren Zweikämpfen.
Der Ausgang der Partie muss bei Carlsen Enttäuschung ausgelöst, Caruana dürfte er Auftrieb gegeben haben. Man kann auf die Folge gespannt sein. Im Augenblick hat Caruana psychologisch gesehen die bessere Ausgangslage.