Man hörte Stimmen, die forderten, dass die Spieler „mehr riskieren“ müssten. Es ist jedoch nicht das Ziel der Teilnehmer an der Weltmeisterschaft, die Zuschauer möglichst wirksam zu unterhalten; sie sind damit befasst, das bestmögliche Resultat zu erzielen. Es scheint mir ein seltsamer Widerspruch, dass man einerseits Forderungen an die inhaltliche Gestaltung der Partien stellt – sie sollen „spannend“ sein – andererseits dem Wettkampfelement höchste Bedeutung beimisst. Wenn das Ergebnis das Wichtigste ist, muss man es den Spielern überlassen, wie sie ihr Ziel anzustreben gedenken; sie werden dies am besten wissen. Mit seiner scharfen Gangart in der achten Partie hat Caruana das Publikum sicher erfreut. Als er einen fühlbaren Vorteil hatte, spielte er zu zahm. Die richtige Angriffsfortsetzung war jedoch nicht einfach zu finden.
Robert Hübner gehörte als bislang letzter deutscher Spieler zur absoluten Weltspitze im Schach. 1980 stand er im WM-Kandidatenfinale und auf Platz drei der Weltrangliste. Bis 1991 war er drei weitere Male WM-Kandidat. Hübner wurde kürzlich mit der SG Luzern Schweizer Meister. Den 70. Geburtstag des Kölner Großmeisters, Altphilologen und Publizisten vor wenigen Tagen würdigte Jürgen Kaube. (Foto: dpa)
Zwischen der zweiten und sechsten Partien wurden stets früh die Damen getauscht. Das technische Verfahren beider Seiten stand dabei auf sehr hohem Niveau, wobei mich Caruana noch etwas mehr beeindruckte – vielleicht, weil ich diesem Aspekt seines Spielens zuvor nicht viel Aufmerksamkeit schenkte. In technischen Stellungen lastet auf den Spielern ein dauernder, gleichmäßig verteilter Druck. Auch wenn ein kleiner Fehltritt das Gleichgewicht noch nicht entscheidend stört, kann eine Folge beinahe unmerklicher Ungenauigkeiten in große Schwierigkeiten führen. Im taktischen Scharmützel dagegen kommt es zu Momenten höchster Erregung, wie wir in der ersten Partie und nun in der achten Partie (hier nachspielbar) zu sehen bekamen.
Fabiano Caruana – Magnus Carlsen
Achte WM-Partie, Sizilianisch
1. e4 c5 2. Sf3 Sc6 3. d4
Der Verlauf der Eröffnung hat große Bedeutung für das strukturelle Gesicht einer Partie. In den ersten sieben Partien ist es keinem der beiden Kämpfer gelungen, mit Weiß eine druckvolle Stellung aufzubauen. Dabei probierte Carlsen die verschiedensten Anfangszüge aus, während Caruana in einem einmal gewählten System, dem Rossolimo-System mit 3. Lb5, Verfeinerungen anzubringen bemüht war, aber damit noch weniger herausholte als Carlsen. Mit dem Offenen Sizilianer schlägt Caruana nun eine schärfere Gangart ein.
3. … cxd4 4. Sxd4 Sf6 5. Sc3 e5 6. Sdb5 d6 7. Sd5
Damit geht Caruana den tief ausanalysierten Hauptvarianten nach 7. Lg5 aus dem Wege und schlägt einen seltener gespielten und weniger erkundeten Pfad ein. Dieses Abspiel führt nicht zu langen taktischen Wendungen, stellt aber höchst komplexe strategische Probleme.
7. … Sxd5 8. exd5 Sb8
Auch 8. … Se7 ist spielbar. Nach 9. c4 muss Schwarz die starke Drohung 10.Da4 abwehren, doch kann dies zum Beispiel mit 9…Sf5 leicht geschehen.
9. a4
Weiß verhindert 9. … a6 nebst 10. … b5 und bereitet sein eigenes weiteres Vorgehen am Damenflügel vor. Wird der Springer nun mit a7-a6 von b5 vertrieben, soll Sb5-a3-c4 mit Beobachtung der Punkte b6 und d6 folgen – wie es später auch in der Partie geschah. Häufiger hat man hier 9. c4 gezogen, um den Springer b5 nach c3 zurückzuführen.
9…Le7 10.Le2 0-0 11.0-0 Sd7 12.Ld2
Dies ist ein bislang wenig gespielter, aber sehr plausibler Zug. Weiß bereitet 13.a5 vor. Auf sofortiges 12.a5 wäre 12…a6 gefolgt, und der Springer könnte nicht nach a3 zurückweichen wegen 13. … Dxa5. Außerdem erschwert 12. Ld2 dem Nachziehenden den Abtausch der schwarzfeldrigen Läufer, weil Le7-g5 meist vorteilhaft mit Ld2-b4 beantwortet werden kann.
12. … f5 13. a5
13. … a6
Schwarz möchte e5-e4 nebst Sd7-e5 spielen; dazu muss dem Springer des Weißen der Zugang zum Feld d4 genommen werden. Jetzt wird sich dieser Springer aber auf b6 festsetzen können. Einen ganz anderen Plan konnte Schwarz mit 13. … f4 verfolgen. Er vermeidet die Schwächung des Feldes b6 und möchte mit Sd7-f6 fortfahren, eventuell gefolgt von e5-e4 und f4-f3. Nach 13. … f4 14. Lb4 Sf6 15. a6 bxa6 16. La5 Dd7 17. Sc7 Tb8 18. Se6 könnte eine interessante, unübersichtliche Stellung entstehen.
14. Sa3 e4 15. Sc4 Se5
Nach 15. … f4 16. Lb4 Tf6 (16. … Se5 17. Sxe5 dxe5 18. d6 ist nicht gesund für Schwarz) 17. Te1 ist der Nachziehende zu sehr mit der Entwicklung im Rückstand, um einen gefährlichen Angriff aufbauen zu können; sein Zentrum wird zusammenfallen.
16. Sb6
Die Stellung nach 16. Sxe5 dxe5 kann als ausgeglichen bewertet werden; der Partiezug verspricht mehr.
16. … Tb8 17. f4 exf3 18. Lxf3
18. … g5?
Ein konsequentes Vorgehen; doch birgt die Entblößung der Königsflanke große Gefahren. Ich habe nach ruhigeren Zügen Ausschau gehalten:
I 18. … Lg5 (mit der Absicht 19. …Lxd2 20. Dxd2 f4) 19.Le2, und Weiß steht wohl etwas bequemer.
II 18. … Lf6 (droht 19. … Sxf3+ nebst 20. … Lxb2) 19. Lc3 Sd7, und Weiß hat nicht viel.
III 18. … Sd7 kommt beinahe auf dasselbe hinaus wie 18. … Lf6.
Jetzt dagegen verschärft sich die Lage; und die Stellung des Weißen ist angenehmer. Caruanas Eröffnungswahl kann als gelungen bezeichnet werden. Er zog lange sehr schnell, was darauf hinweist, dass er sich auf bekanntem Gebiet bewegte. Carlsen dagegen hatte bis zu einer Stunde mehr Bedenkzeit verbraucht.
19. c4 f4 20. Lc3
In Betracht kommt auch 20. Le4
I 20. … Lg4 21. Dc2 Tf7 22. b4, und Weiß hat Druck; 22. … Sd7 wird mit 23. h3 Lh5 24. g4 beantwortet.
II 20. … Lf5 21. Dc2 Lxe4 22. Dxe4. Weiß steht zu b2-b4, Ta1-c1, c4-c5 bereit und hat offensichtlich das bequemere Spiel. Vorteil wahrt aber auch der Partiezug.
20. … Lf5
Nach 20. … Lf6 kann der Vorstoß 21. c5 ebenso gut geschehen wie in der Partie. Der einzige sinnvolle Zug, der ihn aufhält, ist 20. … Dc7, und vielleicht ist dies am besten.
21. c5
Andere Züge versprechen keinen Vorteil.
21. … Sxf3+
Es wurde behauptet, dass 21…Lf6 besser sei. Das mag so sein; aber nach 22.c6 gefolgt von Ta1-c1 engt der Bauer auf c6 die Streitkräfte des Schwarzen gehörig ein. Weiß kann seine Pläne je nach den Zügen des Schwarzen einrichten; Lf3-e2 nebst b2-b4-b5 mag bisweilen gut sein. Es ist deutlich, dass Weiß im Vorteil ist. Mit dem gespielten Zug erobert Schwarz einen Bauern, gibt aber seinen Halt im Zentrum auf. Der Läufer auf c3 wird sich als höchst unangenehmer Geselle erweisen.
22. Dxf3 dxc5 23. Tad1
Stark ist auch 23. Tae1.
I 23. … Ld6 scheitert nun an 24. Sc4 Tc8 25. Dh5 (droht 26. Sxd6 Dxd6 27.Dg5:+) 25. … Le7 26. d6 mit äußerst unerquicklichen Folgen für Schwarz.
II 23. … Lf6 24. Le5 Lxe5 25. Txe5 Df6 26. Tfe1 Tf7 27. Df2. Weiß gewinnt den geopferten Bauern zurück; die Lage des Schwarzen ist ungemütlich.
Der Partiezug ist vielleicht noch wirksamer.
23. … Ld6
Mit dem weißen Turm auf d1 ist die Blockierung des weißen d-Bauern unabdingbar.
24. h3?
Es muss gesagt werden, dass es außerordentlich schwierig ist, die Feinheiten der Stellung zu erfassen und zu begreifen. Dass 24. Sc4 g4 dem Weißspieler zu undurchsichtig war, ist leicht zu verstehen. Er hatte aber eine starke Alternative, ohne Schwarz aktive Möglichkeiten einzuräumen, nämlich 24.Dh5 Lg6 (24…Tf7 25.Sc4 Lg6 26.Df3 geht in Variante II über) 25. Dh3 und nun
I 25. … Lf5 26. g4 Lg6 (26. … Lc2 27. Td2 nützt höchstens Weiß) 27. Tfe1 und Te1-e6 mit entscheidendem Angriff aufgrund der Drohung Txg6+ nebst Dh8+. Züge wie 26. g4 und Manöver wie Te1-e6xg6 sind freilich ohne tiefes Hineindenken kaum vorauszusehen.
II 25. … Tf7 26. Sc4 Lf5 27. Dh5 (Hier führt 27. g4 Lc2 28. Td2 Lb3 zu nichts.) 27. … Lg6 28. Df3. Wieder verschafft die Drohung des Weißen, mit dem Turm auf e6 einzudringen, dem Schwarzen schwerste Sorgen, zum Beispiel 28. … Lf5 29. Tde1 Ta8 30. Dh5 Lg6 31. Dg4 Lf5 (31. … Lf8 32.d6) 32. Te8+ Dxe8 33. Dxg5+ Lg6 34. Sxd6.
Nach dem Textzug kann Schwarz mit seinem Antwortzug Df3-h5 verhindern, seine Dame auf das prächtige Feld g6 führen und den auf b8 eingeklemmten Turm befreien. Er hat keine Schwierigkeiten mehr.
24. … De8 25. Sc4 Dg6 26. Sxd6 Dxd6 27.h4
So kann Weiß ins Unentschieden abwickeln. Bei anderen Fortsetzungen hat er einen Bauern weniger ohne Kompensation.
27. … gxh4
Schwarz ist verständlicherweise nicht neugierig darauf zu sehen, was bei 27. … h6 28. hxg5 hxg5 29. Dh5 Dg6 30. Dh8+ Kf7 31. De5 herauskommt.
28. Dxf4 Dxf4 29. Txf4
29. … h5
Schwarz verschafft seinem Läufer einen nützlichen Stützpunkt auf g4. Die Fortsetzung 29…h3 30. d6 Ld7 (30. … hxg2? 31. d7) 31. Lf6 stürzt ihn nur in Gefahren. Jetzt ist das Remis nicht mehr fern.
30. Te1 Lg4 31. Tf6 Txf6 32. Lxf6 Kf7 33.Lxh4 Te8 34. Tf1+ Kg8 35. Tf6 Te2 36. Tg6+ Kf7 37. d6 Td2
Natürlich nicht 37. … Txb2? 38.Txg4 hxg4 39. d7, und Weiß gewinnt.
38. Tg5 remis.
Der eigentliche Wettkampf ist auf vier Partien geschrumpft. Der Druck auf die Spieler wächst stetig. Sollte es einmal in einer Partie einen Gewinner geben, hat der Unterlegene nur noch wenig Gelegenheit, den Ausgleich herbeizuführen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn die angesammelte Spannung in einer der nächsten Partien eine Entladung findet.