Berührt, geführt

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Einfacher für Schwarz – Robert Hübner zur zehnten Partie

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Die zehnte Partie war meines Erachtens bisher die inhaltsreichste des Zweikampfes. Sie wurde von beiden Seiten mit feinem Stellungsgefühl gespielt. Obwohl seine vorige Weißpartie für Caruana zunächst verheißungsvoll verlief, wich er als erster von deren Zugfolge ab, um vorbereiteten Verbesserungen aus dem Wege zu gehen. Das Ergebnis seiner Bemühungen beeindruckt mich aber nicht: Schwarz konnte eine gefährliche Initiative aufbauen, und Weiß wurde in die Verteidigung gedrängt. Die Stellung befand sich wahrscheinlich in dynamischem Gleichgewicht, sie war jedoch für Schwarz einfacher zu spielen. Carlsen hatte einen gefährlichen Königsangriff, und Caruana musste sich sehr präzise verteidigen. In der Kürze der Zeit, die mir zur Analyse zur Verfügung stand, gelang es mir nicht die Feinheiten der Stellung genügend zu begreifen. Ich gebe nur einigen Anregungen zur eigenen Beschäftigung mit der Stellung.

Robert Hübner gehörte als bislang letzter deutscher Spieler zur absoluten Weltspitze im Schach. 1980 stand er im WM-Kandidatenfinale und auf Platz drei der Weltrangliste. Bis 1991 war er drei weitere Male WM-Kandidat. Hübner wurde kürzlich mit der SG Luzern Schweizer Meister. Den 70. Geburtstag des Kölner Großmeisters, Altphilologen und Publizisten vor wenigen Tagen würdigte Jürgen Kaube. (Foto: dpa) 

Fabiano Caruana – Magnus Carlsen

Zehnte WM-Partie, Sizilianisch (Züge nachspielen)

1. e4 c5 2.Sf3 Sc6 3. d4 cxd4 4. Sxd4 Sf6 5. Sc3 e5 6. Sdb5 d6 7. Sd5

Caruana wiederholt das Abspiel, das er schon in der achten Partie gewählt hat. Er möchte den Gegner wieder auf das Gebiet der außerordentlich komplexen strategischen Kampfsituationen führen, die diese Variante mit sich bringt.

7. … Sxd5 8. exd5 Sb8

Carlsen war offenbar mit dem frühen Eröffnungsverlauf der achten Partie zufrieden und steigt nicht auf den Zug 8…Se7 um.

9. a4 Le7 10.Le2 0-0 11.0-0 Sd7

12. b4

In der achten Partie geschah 12.Ld2. Der Partiezug verfolgt den gleichen Zweck, nämlich der Zug 13. a5 wird vorbereitet. Der Damenläufer kann vielleicht später über e3 ins Spiel eingreifen. Mir gefällt 12.b4 nicht besser als 12.Ld2. Der Nachteil von 12. b4 besteht darin, dass Schwarz jetzt die weiße Bauernphalanx am Damenflügel aufbrechen kann. Weiß behält die Initiative auf dieser Seite, aber sie hat weniger Kraft. Schwarz geht wieder im Zentrum und am Königsflügel vor. Es kommt ein ausgewogener Kampf zustande.

12. … a6

Ebenso wie in der 8. Partie könnte Schwarz versuchen, ohne die Schwächung des Damenflügels auszukommen. Nach 12…f5 13.a5 f4 entstehen andere Kampfbilder als in der Partie; sie können hier nicht weiter besprochen werden.

13. Sa3 a5

Falls Schwarz mit 13. … f5 14. a5 e4 15. Sc4 Se5 dem gleichen Plan folgt wie in der achten Partie, kann Weiß mit 16. Sxe5 dxe5 17. Lb2 einen leichten Druck erlangen. Die Stellung, die nach 13…b6 14.Sc4 f5 15.f4 entsteht, sieht bequemer für Weiß aus. Die Sprengung der weißen Bauernkette ist am wirksamsten.

14. bxa5 Txa5

In Betracht kommt auch 14. … Dxa5 15. Sc4 Dc7 16. a5 Sc5. Der Partiezug ist kämpferischer: Die Dame soll zum Angriff am Königsflügel eingesetzt werden.

15. Sc4 Ta8 16. Le3

Sofortiges 16. a5 wird mit 16…b5 beantwortet.

16. … f5 17. a5

Das ist konsequent. Mit 17. f4 exf4 18. Lxf4 Sb6 kann Weiß keinen Vorteil erzielen. Auf 17. f3 kann Schwarz mit 17. … f4 18. Lf2 Tf6 einen Angriff aufbauen.

17. … f4 18. Lb6 De8

Nach 18. … Sxb6 19. Sxb6 Ta7 20. Lg4 kommt Weiß zur Beherrschung der weißen Felder, während der Läufer auf e7 keine Wirkung entfalten kann; Weiß steht besser.

19. Ta3

Auf der dritten Reihe übt der Turm nützliche Verteidigungsfunktionen aus. Man könnte jedoch an konkreteres Vorgehen denken:

Zunächst zu 19. Lh5, was 19. … g6 erzwingt und der schwarzen Dame den Zugang zum Königsflügel. Wenn Weiß dann 20. Lg4 fortsetzt, folgt 20. … Sf6 21. Lxc8 Txc8. Schwarz hat seine Entwicklung beendet und steht besser; weil die Figuren des Weißen nicht gut koordiniert sind und der Bauer auf d5 schwach ist. Besser ist 20.Le2 Sxb6 (20. … Sf6 21. Lc7 kostet den Schwarzen Material.) 21. Sxb6 Ta7 22. Te1 oder 22. Lg4 Lf5 bzw. 22. … Lxg4 23. Dxg4 Ld8, was jeweils zu einer ungefähr ausgeglichenen Stellung führt.

Am natürlichsten scheint mir sofort 19. Lc7, was Caruana ja auch im nächsten Zug spielt:

I 19. … Tf6 20. Te1 Th6 21. Lf3 Dg6 22. Ta3 Dg5 23. Tc3 Dh4 24. h3. Weiß hat den Punkt e4 unter Kontrolle genommen; man sieht nicht, wie der Angriff des Schwarzen durchdringen kann. Weiß hat meines Erachtens Vorteil.

II 19. … Dg6 20. Te1 (Nach 20.Lh5 Dh6 21.Lf3 Ta6 bereitet Schwarz 22. … Ld8 vor; die Stellung ist ausgeglichen.) 20. … Sc5 (20. … Sf6 21. Lxd6 Lxd6 22. Sxd6 Lh3 23. Lf3 bzw. 22. … e4 23. Sxc8 gibt Weiß einen gesunden Mehrbauer.) 20…Sc5 (20. … e4 scheitert an 21. Lh5, und die Dame kann e- und d-Bauer nicht gleichzeitig decken) 21.Lh5 (aber nicht 21. Sb6 wegen der Antwort 21. … Lh3) 21. … Df6 22. Sb6 Ta6 23. Sxc8 Txc8 24. Lb6. Weiß steht etwas besser.

19. Lc7 gefolgt von 20. Te1 scheint mir besser geeignet, die Entwicklung des schwarzen Damenflügels zu hemmen als Caruanas Zug 19. Ta3.

19. … Dg6 20. Lc7

Jetzt sieht man den Unterschied zwischen sofortigem 19. Lc7 und 19. Ta3 Dg6 20. Lc7; bei sofortigem 19. Lc7 konnte Weiß den Vorstoß 20. … e4 mit 20.Te1 unterbinden. Auch hier kam es noch in Betracht, sich mit 20.Te1 gegen 20…e4 zu stemmen. Nach 20. Te1 Sf6 21. Lc7 Se8 (21. …e4 22. Sb6 ist unklar) 22. Lh5 Df6 23. Lxe8 Txe8 entsteht eine ungefähr ausgeglichene Stellung.

20. … e4 21. Kh1

Auf 21. Te1 folgt nun 21. … f3 22. Lf1 b5, und man sieht, dass die Stellung des Turmes auf a3 auch Nachteile haben kann:

I 23. axb6 scheitert an 23. … Txa3 24. Sxa3 fxg2 gefolgt von 25…Se5, weil der Springer des Weißen die unabdingbare Bewachung des Feldes e5 aufgegeben hat.

II 23. Sb6 Sxb6 24. Lxb6 b4 25. Tb3 La6 26. Tee3 (Nach 26.g3 Lxf1 erweist sich die Schwäche des Feldes g2 als tödlich.) 26. … Lg5. Schwarz steht auf Gewinn.

Es ist deutlich, dass die Initiative auf Schwarz übergegangen ist.

21. … b5

Höchst unwahrscheinlich ist es, dass eine abwartende Haltung mehr verspricht. Nach 21…Kh8 22. Te1 Sf6 23. Sb6 Ta7 hat Weiß die Wahl:

I 24. Lb8 ist nicht das Beste; Schwarz hat die Antwort 24. … Lh3.

II 24. Sxc8 ist eine sichere Fortsetzung; Weiß eliminiert eine der gefährlichsten Angriffsfiguren von Schwarz.

III 24. Dd4. Ich sehe nicht, wie Schwarz seinen Angriff wirksam fortsetzen kann; er schwebt in Gefahr.

22. Sb6

Nach 22. axb6 Txa3 23. Sxa3 f3 24. gxf3 Se5 hat Schwarz einen äußerst gefährlichen Angriff. Weiß tauscht lieber den beweglichen Springer des Schwarzen ab und behält den Turm zu Verteidigungszwecken auf der dritten Reihe, zumal der vorgerückte b-Bauer ein Angriffsziel bleibt.

22. … Sxb6 23. Lxb6

23. … Dg5

Dies ist ein unerwarteter Zug, der den Angriff des Schwarzen nicht sonderlich zu fördern scheint. Mit 23. … b4 24. Tb3 Lf6 25. Txb4 Lc3 26. Ta4 Lf5 kann Schwarz eine sehr aktive Stellung aufbauen; es droht 27. … f3.

24. g3

Die Frage ist natürlich, ob Weiß 24. Lxb5 aushalten kann. Nach 24. … Tf6 25.Te1 Lf5 26.f3 e3 27.a6 Th6 28.Te2 Dh5 29.Dg1 Lh4

Analysediagramm

hat Weiß die Verteidigung 30. g4 fxg3 e.p. 31. Taxe3. Er dürfte nun auf Gewinn stehen.

Die Stellung nach 24. Lxb5 bedarf tieferer Untersuchung.

24. … b4 25. Tb3 Lh3

I Mit 25. … f3 26. Lb5 Df5 27. Te1 Lf6 28. Txb4 Lc3 29. Texe4 Lxb4 30. Txb4 erreicht Schwarz keinen Vorteil.

II 25. … Dh6 mit der Drohung 26. … f3 27. Lb5 Dh3 28. Tg1 Tf6 kommt in Betracht. Nach 26. Lb5 Tf5 27. g4 Tg5 28. f3 exf3 29. Dxf3 Lxg4 30. Dxf4 hat Weiß aber auch nichts Besonderes zu fürchten.

26. Tg1

Unbequem für Weiß ist 26. Te1 Lf6 27. Txb4 Lc3 28. Txe4 Lxe1 29. Dxe1 Tae8, weil der Bauer auf d5 hängt (30.Lf3 Dxd5).

26. … f3 27. Lf1

Mir ist weder klar, wie das Qualitätsopfer 27. Lb5 zu bewerten ist, noch ob Carlsen Besseres hat, als es mit 27. … Lg2+ anzunehmen.

27. … Lxf1 28. Dxf1

Nach 28. Txf1 Dg4 29. Tg1 Tf5 30. Df1 Th5 31. Txb4 (31. a6 Txa6) 31. … Tf8 wird Weiß mattgesetzt.

28. … Dxd5 29. Txb4 De6

30. Tb5

Nachdem Schwarz den Bauern auf d5 erobert hat, sieht die Position deutlich angenehmer für ihn aus. Das Turmendspiel, das nach dem Abtausch der Läufer und der Damen entsteht, befindet sich jedoch im Gleichgewicht. Mit 30. Tb5 versetzt sich Weiß gegen den Vorstoß 30. … d5.

30. … Ld8

Nach 30. … d5 31. Dd1 Tf5 32. g4 Tg5 33. Le3 kommt Schwarz in Nachteil. In Betracht kommt dagegen 30. … Tfc8 31. Db1 Tc4, und Schwarz hat einigen Druck.

31. De1

So wehrt Weiß die Drohung 31. … Lxb6 32. axb6 e3 ab. Nach 31. Db1 Lxb6 32. axb6 e3 33. Db3 Dxb3 34. Txb3 exf2 35. Tf1 Tae8 36. Tbb1 Te2 hätte er bange Momente zu erleben.

31. … Lxb6 32. axb6 Tab8 33. De3 Dc4 34. Tb2

Auch 34. Db3 sollte zum Ausgleich genügen.

34. … Tb7 35. Td1 De2 36. Te1

Die Fallstricke von 36. Dd4 oder 36. Db3+ sind schon an anderer Stelle besprochen worden.

36. … Dxe3 37. Txe3 d5 38. h4 Tc8

Auf 38. … Ta8 folgt 39. c4.

39. Ta3 Kf7 40. Kh2

Mit 40. Ta7 konnte Caruana einfacher ein Remis ansteuern.

40. … Ke6 41. g4 Tc6 42. Ta6 Ke5 43. Kg3 h6 44. h5

44. … Kd4

Nach 44. … g5 45. hxg6 Txg6 46. Tb5 h5 47. Taa5 Tg4:+ 48. Kh3 erobert Weiß den Bauern auf d5, und es entsteht eine klare Remisstellung. Auch nach 44. … Kd6 45. Ta7 Tbxb6 46. Txb6 Txb6 47. Txg7 befindet sich die Stellung im Gleichgewicht. Mit dem Partiezug zwingt sich Carlsen nur selbst, noch genau zu spielen.

45. Tb5 Td6

Die Fortsetzung 45. … Kc4 46. Taa5 Tbxb6 47. Txd5 Tb1 führt zum Ausgleich. Schwarz scheute sich aber wahrscheinlich, seinen König weit vom Königsflügel zu entfernen. Jetzt erhält Weiß ein Turmendspiel mit drei Bauern gegen zwei an einem Flügel.

46. Ta4+ Ke5 47. Tab4 Ke6 48. c4 dxc4 49. Txc4 Tdxb6 50. Txe4+

50. Tf5 Tb4

50. … Kf7 51. Tf5+ Tf6 52. Txf6+ Kxf6 53. Kxf3

Auch 53.Tf4+ Ke6 bietet keine Gewinnaussichten.

53. … Kf7 54.Kg3 remis

Anders als Carlsen in der ersten Partie prüft Caruana seinen Gegner nicht in der Kenntnis elementarer Endspieltechnik. Der inhaltsreiche Kampf hat auch so schon viel Kraft gekostet, und mindestens zwei Partien stehen noch bevor.


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