Wo ich in der Nacht war, in der die Mauer fiel, bin ich oft gefragt worden. In einem Schachcafé in Berlin. Das Belmont gibt es noch, Schach wird dort nicht mehr so viel gespielt wie vor dreißig Jahren. In der Nacht vom 9. November 1989 lief der Fernseher überm Tresen. Von meinem Brett, wahrscheinlich habe ich Blitzschach gespielt, konnte ich den Fernseher nicht hören aber sehen. Manchmal schaute ich hinüber, und jetzt kommt der Clou meiner oft erzählten Geschichte: die sich abwechselnden Nachrichtensprecher und das Gedrängel auf dem Bildschirm wirkten auf mich so unwirklich, dass ich eine ganze Zeit lang glaubte, dass da eine Satiresendung lief. Schachspieler kriegen ja öfter etwas nicht gleich mit. Es war etwa Mitternacht, als ich nach einer Partie näher zum Fernseher ging und endlich verstand. Kurz darauf saß ich mit anderen Gästen des Schachcafés in einem Auto zum damaligen Grenzübergang Bornholmer Straße. Wie sich der Mauerfall aufs Schach auswirkte, darüber bildeten sich damals rasch eindeutige Meinungen.
Die Westdeutschen, die sich für eine Profikarriere entschieden hatten, fühlten sich als Verlierer. Die Öffnung der Grenzen verschärfte nicht nur die Konkurrenz um die Preisgelder. Auf einmal gab es Titelträger im Überfluss. Veranstalter brauchten immer weniger anzubieten, um sie anzulocken.
Die Funktionäre frohlockten zunächst. Sie versprachen sich ein sattes Wachstum nach dem Zusammenschluss dank der angeblich 40 000 Vereinsspieler der DDR. Viele entpuppten sich als Karteileichen, nur jeder Dritte blieb tatsächlich im organisierten Schach. Frühförderung und Kinderturniere ab unter acht Jahren übernahm der Westen bald vom Osten. Eine der besten Erfindungen des ostdeutschen Schachs, das 24-Stunden-Marathonblitzturnier in Dresden, war in den Jahren der Wende ein Renner, aber hat nicht bis in die Gegenwart überdauert.
Einige Ostdeutsche haben sich dafür im Schachkapitalismus bestens eingerichtet. Uwe Bönsch wurde Bundestrainer und später Geschäftsführer beim Schachbund. Bernd Vökler kam als Jugendbundestrainer unter. Raj Tischbierek machte das altbackene Verbandsorgan der DDR-Schächer zur führenden deutschen Schachzeitschrift. Gernot Gauglitz, der einst als Kleinexporteur von DDR-Schachuhren via Ungarn begann, ist inzwischen groß im Windkraftgeschäft und Sponsor der Nationalmannschaft.
Dirk Jordan wurde der erfolgreichste Schachveranstalter des wiedervereinigten Deutschlands und holte die Schacholympiade nach Dresden. Der Schachbund hofierte ihn, bis eine neue Führung sich wunderte, dass Jordan die größte Turnierserie der Nation, die Deutsche Amateurschachmeisterschaft, angeblich schon seit 17 Jahren ehrenamtlich schupfte. Inzwischen ist daraus ein Rechtstreit vor dem Dresdner Landgericht geworden. Für Montag ist ein Urteil angekündigt.
Die durchfeierten Berliner Tage und Nächte, die auf den Mauerfall folgten, gingen damals an mir vorbei, weil ich zur Schachbundesliga nach München musste. Aber gleich nach dem Wochenende kontaktierte ich einige Ostberliner, die ich aus den vorangehenden Monaten kannte. Im August hatten Westdeutsche in Dresden erstmals offiziell an einem Turnier in der DDR teilnehmen dürfen. Dann kamen die Montagsdemos in Leipzig und Berlin, und als im Oktober ein großes Open in Ostberlin stattfand, durfte wieder niemand aus dem nichtsozialistischen Ausland dabei sein.
Dann kam die Freiheit. Am ersten Dezembersamstag 1989 trafen sich die damals besten Spieler aus beiden Hälften der Stadt im Goethe-Institut in der Hardenbergstraße. Vordergründig war es ein im Schnellschach ausgetragener Vergleichskampf. Aber eigentlich ging es ums Kennenlernen. Die kürzere Bedenkzeit erlaubte mehr Begegnungen am Brett, und wir hatten reichlich zu essen und trinken besorgt. Es wurde sehr, sehr spät. Norbert Schulte, der Facility Manage des Goethe-Instituts, machte es möglich. Heute hörte ich, dass er jetzt in Friedrichshain wohne und guter Dinge sei.
Im Frühjahr 1990 organisierten der Westberliner und der Ostberliner Verband gemeinsam einen offiziellen Vergleich. Ohne Bier und Buletten. Nur eine Partie pro Brett. Dafür salbungsvolle Ansprachen. Weil ich bei irgendeinem Schachanlass Flugblätter gegen die Olympiabewerbung verteilt hatte, wurde ich nicht aufgestellt. Was mich nicht störte, aber klarstellte, dass die Meinungsfreiheit auch im Westen ihre Grenzen hatte.