Schlaflos

Schlaflos

Das Familienblog der F.A.Z.

Helft mit, liebe Kinder, sonst verklage ich euch! Es ist zu eurem Besten

© Picture AllianceEindeutig ein gestelltes Foto – Kinder lächeln nicht, wenn sie im Haushalt mithelfen sollen.

Der Paragraph 1619 des Bürgerlichen Gesetzbuchs hätte mein Lieblingsparagraph werden können. Mit ihm hätten sich ein für alle Mal diese anstrengenden Diskussionen in unserer Familie beenden lassen können. Nie wieder bitten, schimpfen, flehen, nie wieder bestechen müssen, bestrafen, drohen. Einfach nur diesen wunderschönen juristischen Schachtelsatz mit seinen 37 Wörtern zitieren – und Ruhe wär‘: „Das Kind ist, solange es dem elterlichen Hausstand angehört und von den Eltern erzogen oder unterhalten wird, verpflichtet, in einer seinen Kräften und seiner Lebensstellung entsprechenden Weise den Eltern in ihrem Hauswesen und Geschäft Dienste zu leisten.“ Und dann und wann hätte ich noch die Überschrift erwähnt, mit würdevoller Stimme: „Bürgerliches Gesetzbuch (BGB).“, „Paragraph 1619“, „Dienstleistungen in Haus und Geschäft“.

Das Kind. Ist verpflichtet. Den Eltern. Dienste zu leisten. Ja, liebe Kinder – das ist geltendes Recht! Und da ist mehr gemeint, als mal einen Trampelpfad im eigenen Zimmer freizuräumen oder die eigenen Kleider kategorienfrei im Schrank zu verteilen. „Hauswesen und Geschäft“ heißt es hier allumfassend. Und da fällt mir eine ganze Menge ein, von A wie Abfalleimer leeren bis Z wie Zahnpastaspritzer vom Badezimmerspiegel kratzen.

Wie gesagt: Paragraph 1619 BGB hätte das Zeug gehabt, mein juristischer All-Time-Star zu werden. Er hätte spielend Hesses Stufengedicht in meinem Langzeitgedächtnis ersetzen können. Aber dann habe ich es tatsächlich mal versucht mit der juristischen Keule. Nach dem Mittagessen. Was natürlich der härteste aller möglichen Realitätschecks ist.
„Eine von euch räumt jetzt die Spülmaschine aus, die andere deckt ab.“ Keine Reaktion.
„Wisst ihr eigentlich, dass Kinder im Haushalt mithelfen MÜSSEN. Das steht sogar im Gesetz.“

Das Recht ist eine stumpfe Waffe, wenn die Gegenpartei kichernd aus dem Esszimmer stürmt. Oder wenn sie „Ach Papa“ murmelt und einen noch nicht mal ansieht dabei. Oder wenn sie gar mit Versatzstücken aus dem Schulunterricht kommt über „Kinderrechte“. Besonders unangenehm ist es, wenn die eigene Position auch noch von den natürlichen Verbündeten untergraben wird: Meine Frau, die sonst immer sehr darauf achtet, dass die Kinder ihre Teller abräumen und andere kleine Aufgaben rund um die Essenszeiten übernehmen, schaute nur teilnahmslos, fast gelangweilt. Keiner, wirklich keiner wollte den Paragraphen 1619 BGB im Wortlaut hören.

Wahrscheinlich haben auch nur überschaubar viele Prozesse von überarbeiteten Eltern gegen unwillige Kinder auf der Grundlage von Paragraph 1619 stattgefunden. Und, klar, das Ganze ist historisch bedingt, eine Reminiszenz an die Zeiten, als sehr viel mehr Kinder in Familienbetrieben mitarbeiteten und -wirtschafteten. Seien wir ehrlich: Niemand kann heute noch etwas mit einer solchen Bestimmung anfangen. Zu kalt, zu autoritär, zu wenig „Familie“.

Aber tatsächlich hat der nüchterne Paragraph eine ziemlich relevante Botschaft für uns moderne Familien: Familie ist Arbeit. Viel Arbeit. Familie ist eben nicht nur emotionaler Rückzugsraum für Eltern und Kinder, also eine Art Abklingbecken für die stressige Schul- und Arbeitswelt, sie ist selbst auch eine Produktionsgemeinschaft. Sie stellt 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche Familiendienstleistungen zur Verfügung, zuallererst für ihre Mitglieder, aber auch für den Rest der Gesellschaft. Frühere Generationen haben das ganz unsentimental gesehen und sind ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass Kinder vor allem potentielle Arbeitskräfte sind mit abgestuften Einsatzmöglichkeiten. Das ging oft so weit, dass Kindheit als unterscheidbare Kategorie überhaupt nicht vorkam – Kinderarbeit dagegen war alltäglich. Auf dem Rücken der Kinder wurde der Wohlstand der Nationen gemehrt. Auch heute muss man nicht weit reisen, um Ausbeutung durch Kinderarbeit zu sehen.

Es gibt aber einen nicht nur qualitativen Unterschied zwischen Kinderarbeit und dem Mithelfen im Haushalt. Und nur wenige Jugendliche in deutschen Durchschnittsfamilien kommen wohl auf die sieben Wochenstunden Mitarbeit im Haushalt, die der Bundesgerichtshof mal als angemessen für Kinder ab 14 Jahren angesehen hat. Das eine nutzt aus, das andere nutzt, und zwar sowohl Eltern als auch Kindern.

Psychologen, Pädagogen, Autoren von Erziehungsratgebern würden jetzt all die positiven Effekte aufzählen, die es für Kinder hat, wenn sie im Haushalt mithelfen. Sie lernen Verantwortung zu übernehmen. Werden empathischer. Verstehen den Wert von Dingen und Dienstleistungen, von fremder und eigener Arbeit besser einzuschätzen. Sind unabhängiger und selbstsicherer beim Lösen von Problemen.

Aber ich gehöre nicht zu dieser Kategorie von Menschen, die so selbstlos auf die Vorteile für die andere Seite achtet. Das nehmen mir meine Kinder auch nicht ab. Deshalb: Es hilft MIR, wenn die Kinder mithelfen. ICH habe mehr Zeit (auch für sie), ICH bin entspannter, ICH fühle mich mit ihnen verbundener, mehr als Teammitglied denn als Dienstleister. Alles drumherum reden hilft nicht: Wenn ich will, dass meine Kinder im Haushalt mithelfen, habe ich nicht ihr Wohlergehen im Blick, zumindest nicht an erster Stelle. Auch nicht an zweiter oder dritter. Kinder wissen das.

Wir sind deshalb inzwischen ehrlicher geworden miteinander, haben auch verbal abgerüstet: Meine Tochter redet nicht mehr von Kinderrechten, wenn sie die Spülmaschine ausräumen soll. Ich verzichte auf das Bürgerliche Gesetzbuch, wenn ich sie überzeugen will, dass sie mehr im Haushalt mitarbeiten soll. Ich sage ihr stattdessen, dass ich Hilfe brauche. Fällt mir nicht so leicht wie die Pose des Rechtsgelehrten oder des pädagogisch geschulten Erziehungsberechtigten.

Ich. Brauche. Hilfe. Es funktioniert. Meistens.