Das Benehmen bei Tisch ist bei uns eine heikle Angelegenheit. Insbesondere dann, wenn wir Besuch haben, beschert unser fast vierjähriger Sohn uns immer wieder peinliche Momente.
Zum Beispiel solche: „Papa! Du hast ohne Tischspruch angefangen! Du kaust schon!“
Oder solche: „Das Wort SAGT man nicht!“
Oder solche: „Nicht so viel nehmen! Sonst bleibt nichts mehr für die anderen!“
Regelmäßig bleibt meinem Mann und/oder mir dann der Bissen im Halse stecken und wir werfen uns über den Tisch panische Blicke zu: Gar nicht gemerkt… Was haben wir wieder Falsches gesagt/gemacht? Was? WAS? Und wenn wir uns gar nicht mehr anders zu helfen wissen, lautet die Reaktion schon mal: „Ich war’s nicht, das war doch der Papa/die Mama!“
Auch jenseits des Esstisches spielen sich unschöne Szenen ab. Wenn es morgens auf dem Fußweg zur Kita mal etwas hektisch wird und wir deshalb nicht an jeder Einfahrt stehen bleiben, heißt es: „Mama, du hast nicht geguckt, ob ein Auto kommt! Mannometer!“ Nicht weniger unangenehm ist es, wenn der kleine Schlaumeier lautstark das Verhalten von anderen Leuten kommentiert: „Der auf dem Fahrrad hat keinen Helm auf – nicht gut, oder?“ Oder „Die Frau hat eine Zigarette, igitt!“ Aber immerhin trifft die Schmach dann zur Abwechslung mal andere.
Sie sehen: Wir haben ein Luxusproblem – unser Kind bringt uns (und anderen) Manieren bei. Das ist keine Koketterie; Ben ist mitnichten stets ein Inbegriff des wohlerzogenen und vernünftigen Kindes, er kann auch anders. Doch ein paar Regeln und „Weisheiten“, die wir ihm vermittelt haben, hat er sich gemerkt. Und zwar so gut, dass er uns immer mal wieder erinnert: beispielsweise daran, dass wir gemeinsam und erst nach dem Tischspruch anfangen (wobei Ben das Tischspruch-Ritual selbst aus der Kita mitgebracht hat). Dass es „schlimme“ Wörter gibt, die man nicht sagen darf. Dass man auf andere Rücksicht nehmen sollte.
Ich weiß, ich weiß, das wird sich wieder legen. Es kommen Zeiten, da hört er uns gar nicht mehr zu, wenn wir Regeln aufstellen; und wenn doch, wird er sie hinterfragen oder gleich aus Prinzip das Gegenteil exerzieren, um es uns so richtig zu zeigen. Aber bis dahin ist noch etwas Zeit (oder etwa nicht?).
Im Moment ist es noch erschreckend einfach: Was wir Ben als Wahrheit verkaufen, glaubt er uns – wenngleich schon mal eine beachtliche Kette an „Warum?“-Nachfragen folgt, aber die sind meist harmlos. Was wir ihm vorleben, macht er nach. Wenn wir uns nicht an das halten, was wir zuvor selbst zur Regel erklärt haben, irritiert ihn das, und wenn er uns darauf hinweist, dann mit echter Entrüstung in der Stimme.
Das ist in gewisser Weise rührend: Es zeigt, wie sehr Kinder sich an ihren Bezugspersonen orientieren und ihnen vertrauen, wenn es um das Lernen erster Spielregeln in der Gesellschaft, sogenannter „Manieren“ (was auch immer das genau heißt) oder um „richtig“ oder „falsch“ geht. Genau darin liegt aber auch die Krux. Wir als Eltern müssen uns darauf festlegen, was die Spielregeln sind – und uns darin auch noch untereinander einig sein, sonst ist das Chaos programmiert („Aber Mama hat doch gesagt…“). Wir müssen eine Definition davon haben, was „richtig“ und was „falsch“ ist, was „gut“ ist und was „schlecht“, um ihnen Werte vermitteln zu können. Das mag beim Verhalten im Straßenverkehr noch einfach sein, aber je größer die Kinder werden, desto kniffeliger werden die Themen und Fragen. Und nicht selten gibt es in der Welt da draußen nun einmal nicht nur „richtig“ oder „falsch“, nur kann man das einem Vierjährigen schlecht erklären. Er wird in seinem Leben eigene Definitionen davon suchen und finden, aber im Moment, glaube ich, braucht er klare Ansagen und Verlässlichkeit.
Deshalb sollten wir Erwachsene uns nicht zuletzt daran messen lassen, ob wir selbst dem gerecht werden, was wir von den Kleinen einfordern, denn die Argumentation „Ich darf das und du nicht, weil ich erwachsen bin“ ist pädagogisch wohl eher ungenügend. Im Alltag fällt das aber oftmals schwer. Da muss es manchmal einfach schnell gehen, und das tägliche Ritual, auf das wir sonst so sehr bestehen, fällt aus. Da wird die „absolute Ausnahme“ schleichend zur Regel, weil es bequemer ist („Ausnahmsweise noch eine einzige Folge Paw Patrol!“ … Ok, noch eine, aber dann ist wirklich Schluss!“). Da wird geflucht und gestritten und das letzte Stück Kuchen gierig verschlungen anstatt geteilt (also, so stelle ich mir das zumindest vor… bei anderen).
Andererseits: Man muss das Ganze bei allem Verantwortungsbewusstsein natürlich nicht immer todernst nehmen; nicht jede Abweichung von der Regel, nicht jede verbale Entgleisung eines genervten Elternteils führt beim Kind zu Traumata. Meine Erfahrung ist zum Beispiel: Ohne einen gepflegten polnischen Fluch oder eine kleine Schimpftirade wäre das Leben mit seinen Gemeinheiten manchmal schlechterdings nicht zu ertragen. Weil das so ist, haben mein Mann und ich uns darauf geeinigt, dass wir „schlimme“ Wörter und Lästereien einfach ausbuchstabieren, damit Ben sie nicht mitbekommt. Das hat im Übrigen einen positiven Nebeneffekt: Bis man „H-I-M-M-E-L-H-E-R-R-G-O-T-T-N-O-C-H-M-A-L“ oder ein polnisches Äquivalent buchstabiert hat, ist die Wut in der Regel ohnehin verflogen.
Hat man sich hingegen schon zu tief hineingeritten, hilft in der Regel immer noch eins: „Entschuldigung“ sagen. Auch, wenn es schwer fällt. Zugeben, dass man einfach sauer, aber das Wort trotzdem doof war. Oder dass man schlicht vergessen hat, an der Einfahrt stehen zu bleiben. Denn diese eine Sache können Kinder Erwachsenen bemerkenswerter Weise immer noch besser beibringen als umgekehrt: die Fähigkeit, zu verzeihen und nicht nachtragend zu sein.