Schlaflos

Schlaflos

Das Familienblog der F.A.Z.

Warum Eltern nie wirklich mitspielen

© Picture AllianceWer am Sonntagmorgen Brettspiele spielen muss, darf dabei wenigstens den Kopf auf der Tischplatte ablegen.

Wenn es eine Zeit gibt, zu der ich nicht empfänglich bin für Einladungen zu Brettspielen, dann ist das sonntagmorgens um acht. Vor allem wenn es sich um eine Einladung zu „Mensch ärgere dich nicht“ handelt – dieses Spiel habe ich schon als Kind gehasst. Eigentlich finde ich solche Einladungen auch noch um neun und um zehn Uhr ziemlich anstrengend. Meine jüngste Tochter (vier Jahre) hat aber für solche Empfindlichkeiten kein Verständnis, sie will jetzt spielen und zwar mit mir, nicht irgendwann in einer ungewissen Zukunft „nach dem Frühstück“, „später“, „wenn alle wach sind“. Nein, jetzt. Außerdem hat sie in der Regel meine Frau auf ihrer Seite („jetzt bist du mal dran“) und den ollen Schiller („Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“).

Wenn meine Tochter mit der Spielesammlung vor meinem Bett steht, wäre ich lieber kein Mensch. Sondern ein Kopfkissen oder eine alte Socke – für die interessieren sich Kinder nicht, die dürfen erst mal liegenbleiben. Aber: keine Chance. „Willst du Rot oder Blau?“ Warum überspringen Kinder generell die Einleitung, das Vorwort, wenn sie spielen wollen, warum scheinen sie so unempfänglich für die Signale ihres erwachsenen Gegenübers? Könnten die nicht einfach etwas langsamer vorgehen? „Papa, möchtest du dir vielleicht erst einen Kaffee machen“, zum Beispiel? So was in der Art. „Rot.“

Wir bauen die Spielfiguren auf. Mensch! Ärgere! Dich! Nicht!

Es hätte auch andere Möglichkeiten gegeben. Die Nuklear-Option, die 100-Prozent-Lösung: Tablet oder Handy in die Hand drücken, zurück ins Bett. Ich mach das manchmal, natürlich nicht oft, natürlich nicht, und ich plädiere dann vor meinem inneren Richter immer auf Notwehr, verweise auf pädagogisch wertvolle Apps oder Filmchen, die das Kind statt der Interaktion mit dem Erziehungsberechtigten konsumieren kann. Wer‘s immer ohne Elektronik macht, werfe den ersten Stein. Und ich spare mir jetzt die ideologisch aufgeheizte Debatte über die mediale Verwahrlosung des Nachwuchses für einen späteren Blog-Beitrag. Aber so viel scheint mir gut belegt in dieser Sache: Die Trägheit des Erwachsenenherzens ist es, Acedia, die die Kinder lieber in die Fänge der Elektronik entlässt als mit ihnen Brettspiele aufzubauen oder noch eine Runde Ching, Chang, Chong zu spielen.

Die interessantere Frage ist doch die: Ist Spielen mit Kindern für Erwachsene tatsächlich so unattraktiv wie Wäsche sortieren müssen oder Spülmaschine ausräumen? Und zwar nicht nur sonntagmorgens, sondern immer? Warum bekommen Kinder auf ihre Einladungen zum gemeinsamen Spielen von Erwachsenen oft so deprimierende Rückmeldungen wie „Ich muss erst noch…“, „Sehr gern, aber…“ oder „Okay, nur ein kurzes Spiel“. Man zeige mir einen Erwachsenen, der aus vollem Herzen antwortet: „Na klar! Coole Idee.“

Die Wahrheit, die kleine Kinder ahnen und große sehr bald verinnerlicht haben, ist ziemlich niederschmetternd: Die meisten Erwachsenen wissen gar nicht mehr, wie man spielt. Wenn sie mit Kindern spielen, imitieren sie einen Mitspieler, aber sie sind es nicht. Sie spielen „Mensch ärger dich nicht“ (oder andere Spiele), ohne wirklich gewinnen zu wollen. Sollen sie in eine Rolle schlüpfen (Kristalleinhorn, Luuk Skeiwoker, Eiskäufer), bewegen und sprechen sie genauso wie immer. Dabei weiß jedes Kind, dass das nicht funktionieren kann. Der erwachsene Homo faber erledigt seine Spielpflichten beim kindlichen Homo ludens, macht seinen Haken auf der familiären To-do-Liste – und wendet sich dann wieder etwas Produktiverem zu. „Jetzt reicht es doch mit dem Spielen. Ich muss doch noch….“ Oder er freut sich darauf, irgendwann „freie Zeit für sich“ haben zu können. (In ihrer freien Zeit lesen die Erwachsenen dann kluge Bücher, in denen steht, wie wichtig und positiv das gemeinsame Spielen mit Kindern ist.)

Das Ganze hat Folgen: Spielen imitieren müssen ist natürlich anstrengender und unattraktiver als wirklich zu spielen. Echtes Spielen ist Selbstzweck und zwar immer. Das verstehen Kinder besser als Erwachsene. Erwachsene dagegen leiden an der „um zu“-Krankheit, ihr Spielen ist meist Mittel zum Zweck. Wenn sie „mitspielen“, wollen sie andere Ziele erreichen: dass das Kind nicht mehr quengelt zum Beispiel, dass der Nachwuchs intellektuell, motorisch oder sozial gefördert wird, dass das eigene Gewissen entlastet wird („Papa spielt mehr mit seinem Handy als mit mir“).

Das ist das große Missverständnis zwischen Kindern und Erwachsenen – und frustriert beide Seiten. Kinder spielen, Erwachsene tun nur so. Dabei sehnen sich Erwachsene genau nach diesem selbstvergessenen Spielen ihrer eigenen Kindheit zurück, wenn sie mal Zeit haben, darüber nachzudenken. Haben sie aber nicht.

Kinder geben irgendwann auf. Je älter sie werden, desto seltener werden die Einladungen zum gemeinsamen Spielen. Beide Seiten verständigen sich irgendwann auf eine gemeinsame Sprachregelung: „keine Zeit“ zum Beispiel oder „unterschiedliche Interessen“.

Das alles ist selbstverständlich abgrundtief traurig, all die verpassten Chancen für Erwachsene, wieder echte Menschen zu werden. Aber es ist definitiv kein Grund um sonntagmorgens um acht ausgerechnet „Mensch ärgere dich nicht“ zu spielen. Meine Tochter hat inzwischen zwei, ich ein Hütchen nach Hause gebracht. Bei diesem Tempo sitzen wir noch bis zum Mittagessen hier. Zeit für eine Beschleunigungsregel:
„Wollen wir so spielen, dass man keine Sechs braucht, um rauszukommen?“
„Ja, aber du darfst mich nicht schlagen.“

Bin sehr einverstanden, obwohl ich damit meine Gewinnchancen noch weiter reduziere. Aber es bleibt zäh. Es ist einfach nicht mein Spiel. Immer noch erst zwei Hütchen im Ziel.
„Wollen wir lieber Ching, Chang, Chong spielen?“, schlage ich vor.
Meine Jüngste zögert kurz, dann hat sie das „Mensch ärger dich nicht“-Spiel vergessen: „Aber mit Schlittschuh und Regenschirm, und mit Hütte, Frosch, Flugzeug, Mülltonne, Schmetterling und mit Spinne!“
„Ich kenne nur Stein, Schere, Papier“, sage ich. „Und Feuer, Brunnen und Regen.“
„Macht nichts. Ich erklär dir‘s.“

An diesem Sonntagmorgen lerne ich viel. Zum Beispiel dass Schlittschuh gegen Regenschirm gewinnt („der Regenschirm fällt um, wenn der Schlittschuh dagegenfährt“), dass Hütte gegen Spinne gewinnt („Hütte ist groß, Spinne ist klein“), und dass Schmetterling gegen Mülltonne gewinnt („Schmetterling fliegt drüber“). Und ich erwische mich dabei, dass es mir tatsächlich Spaß macht, rauszukriegen, wie man nach dem Ching-Chang-Chong-Spruch mit einer Hand rechtzeitig eine Mülltonne formt, die nicht nach Brunnen oder Feuer aussieht. Eins ist aber sicher: Da muss ich noch üben.