Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Elternabend – der ultimative Bildungskanon

© Picture AllianceMit den Zahlen fängt es an, und bald pauken sie Wildschweingebisse: Der Lehrplan erschließt sich nicht jedem.

Ich lese zurzeit das Buch „Was unsere Kinder wissen müssen. Ein Kanon für das 21. Jahrhundert“. Geschrieben hat es der Bildungsredakteur einer großen deutschen Wochenzeitung, die angeblich gern von Lehrern abonniert wird. (Vielleicht auch von den Lehrern meiner Töchter! Wer weiß…) Aber ich lese es natürlich nicht wegen meiner Kinder. Wie alle Erwachsenen lese ich Bildungskanones immer fürs eigene Ego: Abgleichen, ob das eigene Halbwissen noch konkurrenzfähig ist. „Ja klar, das muss man kennen!“, „Das ist jetzt aber wirklich sehr speziell!“, „Das muss ich vielleicht auch mal lesen/anschauen/anhören/verstehen. Irgendwann“.

Natürlich bin ich einigermaßen erleichtert, wenn am Ende herauskommt, dass ich von den kanonisierten Werken doch einige kenne. Star Wars zum Beispiel, Harry Potter und „Der Mond ist aufgegangen“ (leider nicht alle Strophen). Das bisschen, was dann noch fehlt (zum Beispiel „Das Ziegenproblem. Denken in Wahrscheinlichkeiten“ aus der Feder eines anderen Redakteurs der gleichen Wochenzeitung) kommt auf meine To-Do-Liste. Solche Wissenslücken sind leicht zu schließen.

Schwieriger sind die Lücken zu füllen, auf die ich in regelmäßigen Abständen durch die Schule meiner Kinder gestoßen werde. Im Elternabend der 4. Klasse zum Beispiel, der Klasse meiner Mittleren. Da sitze ich zusammen mit anderen Eltern an viel zu kleinen Tischen, knabbere an einem alten Schokoladenkeks und lasse meinen Blick über die Lernposter an den Wänden schweifen. Ach ja, Plusquamperfekt und Präteritum und Perfekt und Futur 1. Schöne Zeiten waren das. Die Deutschlehrerin erzählt gerade etwas über die Lerninhalte in ihrem Fach, das Ganze gebe es aber später für die Eltern auch als Handout. Entspannte Gesichter. Dann, ohne Vorwarnung: „Und, wer weiß, welche Zeitform das hier ist: ‚Du wirst es schaffen‘?“ Stille im Klassenzimmer. Mikado-Stille. Jetzt nur nicht bewegen. Die Deutschlehrerin schaut die Eltern erwartungsvoll an. Keiner rührt sich.

Natürlich wissen wir Eltern, was für eine Zeitform das ist. (Meine Jüngste würde sagen: „Das ist doch babyeierleicht“) Aber das war so nicht abgemacht! Wir müssen hier nichts beweisen! Wer jetzt antwortet, blamiert sich entweder oder er outet sich als Lehrerschleimer und Streber. Die Deutschlehrerin kürzt die peinliche Stille ab, nuschelt etwas von „Zukunft, das wissen Sie ja alle“, dann stellt sie den Rest des Unterrichtstoffs vor. Weitere Überraschungen gibt es nicht mehr. Auch die Deutschlehrerin hat jetzt verstanden, dass wir Eltern nicht abgeprüft werden wollen. Ob es denn noch Fragen gebe. Jetzt kommt er, der Gegenangriff, sie hat es nicht anders verdient! Eine Mutter formuliert ihn: Ob denn der Genitiv überhaupt keine Verwendung mehr finde, gar nicht mehr geübt würde. „Die Kinder verwenden immer dieses falsche ‚wegen dem‘“, erklärt die Mutter mit leichter Empörung in der Stimme. Die Deutschlehrerin schaut die Mutter etwas irritiert an. Das hat sie nun davon, die Pädagogin! Kommt sie uns mit Konjugation, schlagen wir Eltern mit Deklination zurück. Doch, natürlich, der Genitiv nach „wegen“ würde auch noch geübt, erwidert die Deutschlehrerin leicht ermattet. Tatsächlich sei es aber schwierig, weil er in der Umgangssprache so selten verwendet würde.

Eine unbefriedigende Antwort, meinetwegen, aber wegen dieses/diesem/des/dem Problem(s) würde ich mich jetzt nicht sorgen. Entspannt euch mal, ihr Kulturpessimisten! Überhaupt läuft an unseren Schulen vieles sehr sehr gut, besser als die ewige Bildungsdebatte vermuten lässt. Oder in den Worten des oben erwähnten Bildungsredakteurs der großen deutschen Wochenzeitung: „Wenn morgens um acht im ganzen Land die Schulglocken klingeln, dann wird damit nicht der Untergang des Abendlandes eingeläutet.“

Recht hat er. Die Schulen erfüllen ihren Auftrag in einer Zeit, die mit ihren Umbrüchen und Herausforderungen auch anderen Institutionen gewaltig zusetzt, einer Zeit, in der viele Erwachsene längst aufgegeben haben, diese Welt verstehen zu wollen. In einer Zeit, in der sich viele einigeln, Angst vor der Zukunft oder dem Fremden haben, Angst um die eigenen Besitzstände – in dieser Zeit hält die Schule wacker die Stellung, sie ist vielleicht die letzte Bastion gegen eine verdummende Erwachsenenwelt: Sie weitet in der Regel Horizonte, während es um sie herum immer enger wird in den Herzen und Hirnen. Und die meisten Lehrerinnen und Lehrer, zumindest die, die ich durch unsere beiden Schulkinder kenne, scheinen ihren Schülerinnen und Schülern wirklich etwas beizubringen.

Zugegeben: Manchmal erkenne ich nicht gleich den tieferen Sinn der Lerninhalte. Zum Beispiel wenn meine Älteste das Zahnschema von Wildschweinen für die Biologieklassenarbeit auswendig lernen muss, mühsam aus einem schlecht kopierten Miniaturschaubild ablesend. Klar, nicht jeder Biologielehrer trägt ein echtes Wildschwein-Gebiss mit sich herum, mit dem er den Unterricht anschaulicher machen könnte. Aber warum müssen Elfjährige denn wirklich wissen, wie Wildschweine ihre 44 Zähne verteilen?

Es geht mir gar nicht um Praxisrelevanz – das ist ein falsches Ziel in der Schule. Praxisrelevanz ist vielleicht sogar die dümmste Priorität, die man in der Schule haben kann. Einerseits weil die allgemeinbildende Schule per Definition nie praxisrelevant sein kann, sondern im besten Fall ein Versuchs- und Entdeckungsraum, unabhängig von schwankenden Nützlichkeitserwägungen. Zum anderen hat Praxiswissen inzwischen eine immer kürzere Halbwertszeit: Im Zweifel ist es sinnvoller, in der Schule etwas über Wildschweinzähne und Gerechtigkeitstheorien zu erfahren als über Bewerbungsstrategien und Selbstmarketing.Wir brauchen in den allgemeinbildenden Schulen keine Vorbereitungskurse für den Arbeitsmarkt. Es ist ein Paradox, das die Apologeten der praxisrelevanten Schule nicht verstehen: Je früher sie die Schule zur Vorbereitung auf das „echte Leben“ drängen, desto weniger werden sie jene selbständigen, kreativen Köpfe bekommen, die doch angeblich so händeringend gesucht werden. Denn: „Praxisrelevanz“ ist nur die Schublade, in der die dominanten Erwachsenengenerationen, die jetzt Erwerbstätigen, ihr Leben organisieren. Für die Alten ist anderes wichtiger – und die Kinder haben (hoffentlich) irgendwann neue Ideen.

Ich habe nur einen Wunsch an die Schule: Sie soll nicht die Neugier der Kinder ermorden – also die Kinder aus niedrigen Beweggründen langweilen. (Liebe Kinder, manchmal lässt es sich nicht vermeiden, dass ihr auch langweilige Sachen machen müsst. Und jetzt lernt endlich eure Vokabeln!) Niedrige Beweggründe in der Schule sind: Angst, Bequemlichkeit, Engstirnigkeit. Das war schon immer so. Comenius, der Pädagogik-Rockstar des 17. Jahrhunderts, kämpfte dagegen und verzweifelte gelegentlich daran, dass „das Gewohnte dem Besseren geradezu gesetzmäßig“ vorgezogen würde. Aber: Inzwischen ist doch einiges besser geworden…

Der Elternabend ist zu Ende. Ich greife zum Handout mit dem Titel „Deutsch Klasse 4“ – der „Kompetenzbogen“. Das sind also die Kompetenzen, die meine Tochter in diesem Fach hoffentlich erwerben wird. Erster Punkt: Sprechen und Gespräch. „Du hörst aufmerksam zu.“, „Du kannst dich auf Äußerungen anderer beziehen.“, „Du beteiligst dich mit sachgerechten Beiträgen am Gespräch.“, „Du kannst deine Meinung begründen.“ Und so weiter. Ja, denke ich, wäre schön, wenn es da Auffrischungskurse für Erwachsene gäbe.

Und da schleicht sich ein furchtbarer Gedanke ein: Das Problem mit der Bildung sind nicht die Schulen oder die Lehrpläne, dieser oder jener Kanon wichtiger Werke, auch nicht die Strukturen, G8 oder G9. Das Problem sind Erwachsene, die nicht mehr neugierig sind auf die Welt um sie herum.