Gestern hab ich es wieder getan. Werde ich es je lernen? Während mein Teenager in der Schule abhängt, saß ich brav wie die Lottofee zur festen Vorverkaufszeit am Rechner, tippte meine Kreditkartennummer ein und kaufte horrend teure Konzerttickets. (Weihnachten und Geburtstag zusammen, Kind!) Für eine Band, die noch ganz okay ist, wenn man das mit den Erfahrungen des ersten gemeinsamen Konzertbesuchs vergleicht. Aber dazu später.
Die Sache ist halt: Es geht dabei nicht ohne mich. Ob ich die Musik nun mag oder nicht – in die meisten Veranstaltungen werden Kinder unter 14 nicht alleine reingelassen, ein gepeinigter Erwachsener muss immer dabei sein. Und mein Geld wollen die auch noch.
Aber abgesehen vom schnöden Mammon: es geht hier um die musikalische Prägung meines Kindes, um den ewigen Stempel, den Musik unserem Nachwuchs in diesem Alter aufdrücken wird. Was meine Tochter heute mit 13 in hibbelige Aufregung versetzt, wird sie angeblich in 20 Jahren noch gut finden. Der Autor Seth Stephens-Davidowitz hat das in der New York Times überzeugend dargelegt. Er hatte die Lieblingslieder von Spotify-Usern untersucht und dabei festgestellt, dass bestimmte Songs von bestimmten Altersgruppen favorisiert wurden. Soweit wenig überraschend, aber er konnte eingrenzen, dass diese Lieblingssongs gerade in der Pubertät der User herausgekommen waren. Sprich: Was Jungs mit 14 gehört hatten, fanden sie fast immer auch noch mit 38 gut, die Mädchen entwickelten im Alter von 13 Jahren die größte Treue zu bestimmten Hits.
Ich möchte zumindest dabei sein, wenn die Musik während der Pubertät ein Ausrufezeichen setzt und die musikalische Früherziehung mit einem Wisch vom Brett fegt. Trommelnde Zweijährige, tanzbärige Vierjährige, Kinderchor in der Grundschule. Hat alles nix genutzt, denn nun stehen wir hier und müssen diesen Lärm ertragen.
An das erste Mal kann ich mich leider noch sehr gut erinnern. Ich dachte arglos, dass wir eine unbekannte Band in einem kleinen Saal zu sehen bekämen, wahrscheinlich würde das Publikum aus dem Türsteher, uns und den Eltern der Möchtegernmusiker bestehen. Es war doch ein ziemlicher Schock, als ich stattdessen auf eine Menschenschlange voller pickeliger junger Nerds traf, die sich einmal um die Konzerthalle gewickelt hatte. Wir reihten uns ein und ich durfte fortan nicht reden, nicht wippen, und vor allem nicht auffallen, denn sonst wäre mein Kind im Boden versunken.
Viele Eltern – hauptsächlich Mütter – standen ebenfalls schweigend und gottergeben in der Schlange. Und sie standen lange. Sie zahlten den wahren Preis, weil ihre Kinder ja noch zu klein sind, um sich den Spaß alleine reinzuziehen.
Als wir dem Eingang näherkamen, mehrten sich die verheulten Gesichter jener, die zwar rechtzeitig eine Karte gekauft, aber eben nicht daran gedacht hatten, sich erwachsenen Begleitschutz zu besorgen. Ich hätte spontan eine ganze D-Jugend-Mannschaft adoptieren können.
Drinnen dann erwartbar wildes Getöse und jede Menge schlaksige junge Menschen, die steif wie sperrige Möbelstücke im Raum standen und den Lärm mit stoischer Miene über sich hinwegbrausen ließen. Kein Tanz, keine Ekstase, nix.
Für die ahnungslos hereinstolpernden Eltern sahen die wild tätowierten Menschen auf der Bühne irgendwie alle gleich aus. Vorprogramm oder Hauptact, die Unterschiede schienen, was die Qualität der Geräusche oder der Performance anging, minimal. Obwohl man weder eine Melodie hörte noch eine Textzeile verstehen konnte, bewegte mein Kind wie hypnotisiert die Lippen mit. Und nicht nur meines, auch die Kinder der anderen waren demselben Kult verfallen.
Die Erwachsenen wichen vor diesem Anblick an die hinterste Wand zurück. Dort war es etwas leiser – und dort war die Bar. Erst war alles etwas umständlich, schließlich war jedes Elternteil wie eine wandelnde Garderobe mit mehreren Jacken und Taschen behängt und versuchte, die Brut in der Hitze des Raumes noch regelmäßig mit Wasser zu versorgen. Aber irgendwann verließen sich alle drauf, dass die Kinder in der drangvollen Enge gar nicht umfallen konnten, wir setzten uns auf die Kleiderberge und trösteten uns mit einem Bier. Irgendjemand gab eine Runde Ohrstöpsel aus. Und ich fühlte mich plötzlich wie meine eigene Großmutter.
Die Band von damals (aka 2017) ist zum Glück Geschichte. Aber jetzt ist die Tochter ja auch 13 und es kommt nun richtig drauf an. Nach einer ausufernden Lana-del-Rey-Phase werden wir uns also Anfang nächsten Jahres Panic! At The Disco ansehen. Damit ich vorbereitet bin, hat mein Kind mir schon angedroht, auf der nächsten langen Autofahrt mehrere CDs „zur Einstimmung“ mitzunehmen. Noch lächele ich.
Denn auch ich habe aufgerüstet. Nach Songs gesucht, die ich damals mit 13 gehört habe. Nicht die Top 10, sondern etwas aus jener Radiosendung, die ganze Alben laufen ließ und die ich spätabends mit dem kleinen Radio unter der Bettdecke gehört hatte. Bad Company und Kansas, seit der Plattenspieler verschrottet wurde, nicht mehr gespielt, waren damals mein Geheimrepertoire.
Als ich einzelne Songs auf Youtube wiederfinde, kann ich sofort die Texte mitsingen. Aber nicht nur das, ein Gefühl stellt sich sofort wieder ein: Meine eigene Welt erobert zu haben. Das, was damals nicht jeder in meiner Klasse kannte und hörte. Diese Musik gehörte nur mir und nur ich konnte sie verstehen. Sie pochte sich direkt in mein Herz hinein, in meinen Bauch, in jede Faser.
Heute kommt noch ein neues Gefühl hinzu: Das sind musikalische Vorlieben, für die ich mich schämen sollte. Aber das geht ja gar nicht, ich war doch 13 und wurde geprägt! Vielleicht kann ich mich daran erinnern, wenn ich das nächste Mal an ihre Zimmertür klopfe und kopfschüttelnd auf die fremden Töne dahinter lausche.