Es wird Zeit, die Wahrheit über Kindergeburtstage zu erzählen. Also über die Geburtstagsfeiern der eigenen Kinder. Eltern kennen die Wahrheit zwar, aber sie sprechen nicht darüber. Vor allem nicht mit anderen Eltern. Da ist nur dieser Blick, wenn die Kinder abgegeben werden. “Wann soll ich N.N. (Name des Kindes, das mit Geschenk in den Händen ungeduldig neben einem Erwachsenen steht) wieder abholen?” Und in diesem Blick der abgebenden Eltern liegt so viel Mitleid, so viel Verstehen, manchmal aber auch, ja: Schadenfreude. Die Konvention verlangt, dass die gastgebenden Eltern fröhlich lächelnd, mindestens aber völlig entspannt antworten: “Ach, wie es euch passt. So um sechs rum.” Nur absolute Anfänger würden die eigentliche Botschaft überhören: Punkt 18 Uhr ist Schluss – und wehe, ihr holt eure Blagen später ab!
Ein Freund – Vater von sieben Kindern – sagte vor unserem ersten Kindergeburtstag, dass wir diese Veranstaltungsreihe irgendwann hassen werden. Inzwischen haben wir (mit unseren drei Töchtern) 25 Kindergeburtstage hinter uns – und immer, wenn wieder einer ansteht, denke ich vorher: Der Freund hatte Recht. Kindergeburtstage sind die Pest, sie lassen Eltern schneller altern als übermäßiger Alkoholkonsum oder Kettenrauchen. Sie nehmen regelmäßig so viel Familienressourcen (Energie, Nerven, Geld) in Anspruch, wie sonst für eine ganze Woche Normalbetrieb zur Verfügung steht. Und sie führen in 10 von 10 Fällen zu Streitereien – vor allem vorher („Auf den Einladungen fehlt unsere Adresse!“, „Diesmal kannst du das Catering übernehmen!“, „Hast du an die Tütchen gedacht?“). Manche gastgebende Eltern bekommen bei der Planung so schlechte Laune, dass sie ihre Kindergeburtstage übrigens bewusst auf sonntags von 11 bis 14 Uhr legen, damit möglichst auch die anderen Eltern schlechte Laune bekommen („Wir freuen uns, wenn du Zeit hast!“)
Wie konnte es so weit kommen? Was hat dazu geführt, dass aus fröhlichen Erinnerungsfeiern an beglückendste Familienereignisse (Kind kommt auf die Welt!) stresserfüllte Events mit eigenem Projektmanagement wurden? In meiner Kindheit im Paläolithikum war das jedenfalls ganz anders. Glaube ich zumindest. Ich war ja damals auf der anderen Seite, Konsument elterlicher Dienstleistungen. Aber ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass meine Eltern an meinen Kindergeburtstagsfeiern irgendwie in Erscheinung traten. Irgendwann stand da ein Rührkuchen auf dem Tisch und ein Krug Kakao. Das muss wohl meine Mutter hingestellt haben. Die Freunde kamen (allein, ohne Erwachsene, ohne schriftliche Einladung), wir spielten (allein, ohne Erwachsene), wir aßen und tranken (allein), dann gingen sie wieder (allein). Schluss. Wenn meine Freunde weg waren, habe ich mit meinen Geschenken gespielt (allein) – und irgendein Erwachsener hat wohl aufgeräumt. Ich kann mich nicht erinnern, was meinen sechsten von meinem siebten, achten oder neunten Geburtstag unterschieden hätte. Es gab immer Kuchen, Gäste und Geschenke. Mehr war nicht. Aber ich glaube, ich hatte Spaß.
Es gibt nun verschiedene Theorien, warum Kindergeburtstage heutzutage ganz anders ablaufen. Anders ablaufen müssen. Warum Kindergeburtstage längst eventisiert sind. Warum sie inszenierte Ereignisse geworden sind, interaktiv und erlebnisorientiert. Und warum es so schwer fällt, sich dem zu widersetzen. Früher war ein Kindergeburtstag ein Kalendertag mit Kuchen, Gästen und Geschenken – ob der Spaß brachte oder nicht, hing von vielen Dingen ab, am wenigsten aber von den Eltern. Heute ist der Kindergeburtstag ein Event – und für den sind die Eltern verantwortlich. Haben sie sich zumindest erfolgreich eingeredet. Ein Event ist „ein zu Werbezwecken inszeniertes Ereignis bzw. Erlebnis“ (Metzler-Lexikon Kultur der Gegenwart). Das stimmt auch für Kindergeburtstage: Ein erfolgreicher Kindergeburtstag bringt immer Distinktionsgewinne für die feiernden Kinder, vor allem aber für die verantwortlichen Eltern: „Letztes Jahr hatten wir ja schon die GPS-geführte naturkundliche Schatzsuche mit Kletterwand und anschließendem Töpfern. Vielleicht können wir dieses Jahr im Polizeimuseum einen Kriminalfall lösen oder ins Kino oder ins Spaßbad gehen. Oder einfach mal nur zuhause Papier schöpfen.“
Die für mich schlüssigstes Erklärung für die Eventisierung des Kindergeburtstags findet sich in Thorstein Veblens „Theorie der feinen Leute“: Es ist Imponiergehabe, um die soziale Stellung, die eigene und die der Kinder zu verteidigen oder auszubauen. Kindergeburtstage werden so zum Ausdruck des Geltungskonsums („conspicuous consumption“) der Erwachsenen. Ein zu hartes Urteil? Betreiben die Eltern nicht aus Liebe all diesen Aufwand? Sollen wir Kindern nicht zeigen, wie besonders sie für uns sind, gerade an ihrem Geburtstag? Vielleicht. Aber das kann nur die halbe Wahrheit sein. Man zeige mir die Eltern eines Geburtstagskindes, die es heute noch wagen, nur einen Kuchen und Getränke auf den Tisch zu stellen und die Kinder sonst in Frieden zu lassen. Das Benchmarking der Eltern ist da gnadenlos.
Hinzu kommt: Auch die Kinder haben den eventisierten Kindergeburtstag internalisiert. Man stelle sich vor, es gäbe plötzlich kein Wochen vorher angedachtes Eltern-Kind-Projekt mehr mit Motto, Zeitplan, Gästeliste, Geschenketüte, kunstvollen Einladungen, raffinierten Essensplänen (Pommes mit Pfannkuchen), umfangreichen Spiele- und Requisitenlisten. Keine über die gesamte Wohnfläche verteilte Dekoration mehr, keine Back- und Putzorgien, keine Mitbringsel für den Morgenkreis in der Kita („Aber bitte keine Süßigkeiten!“) oder für die eigene Klasse in der Schule. Solcherart reduzierter Enthusiasmus für den Kindergeburtstag müsste eigentlich das Jugendamt auf den Plan rufen, mindestens aber würde es die eigenen Kinder sehr an der elterlichen Liebe zweifeln lassen.
Es hilft nichts, liebe Eltern: Wir müssen da durch. Aber es gibt zwei Tröstungen auf dem Weg:
Erstens: Die Phase des von den Eltern zu eventisierenden Kindergeburtstags ist zeitlich beschränkt. Sie beginnt frühestens mit dem Krabbelalter (Ausgestaltung des Kindergeburtstags als Erwachsenentreff mit Kaffee und Kuchen und gelegentlicher Zuwendung zum Geburtstagskind: „Du bist aber groß geworden. Nein, nein, nein, das ist mein Kuchen!“). Und sie endet spätestens mit der Pubertät („Nein, wir brauchen keinen Topf fürs Topfschlagen, Papa. Danke!“)
Zweitens: Es gibt inzwischen eine große Anzahl professioneller Dienstleister, die – im flexiblen Umfang – die Eventisierung des Kindergeburtstags übernehmen können. Das ist zwar nicht billig, aber man hat dafür nicht ein ganzes Jahr eine Hüpfburg in der Wohnung stehen. Doch auch beim Einsatz von Event-Profis ist immer ein Auge für die Details notwendig („Das ist jetzt etwas schwierig mit der Schwimmbad-Party, wenn deine beste Freundin noch nicht schwimmen kann“).
Auf den Einsatz von Profis haben wir bisher bei unseren Kindergeburtstagen verzichtet. Das geht (noch) gegen die Ehre, außerdem bin ich zu geizig. Und noch etwas kommt hinzu: Ich würde das Glücksgefühl danach vermissen. Es wieder geschafft zu haben. Mit meiner Frau in einer verwüsteten Wohnung zwischen überhitzten Kindern zu stehen, Piraten-Makeup im Gesicht, ein Glas Sekt oder ein Bier in der Hand, und dann klingelt es an der Tür und die ersten Eltern kommen, um ihre Kinder abzuholen.
„Na, alles klar?“ Die abholenden Eltern wollen jetzt nicht wissen, dass ihre Tochter, die verwöhnte Göre, unseren Kuchen nicht mochte oder eine halbe Stunde allein gespielt hat, weil sie keine Lust auf Schatzsuche hatte. Nein, das wollen sie bestimmt nicht wissen!
„‘türlich! Möchtet ihr noch was trinken?“
„Nächstes Mal. Wir müssen gleich los.“ Schade zwar, aber aus meinem Hochgefühl vertreibt mich in diesem Moment niemand. Meistens jedenfalls.
Kürzlich haben es eine abholende Mutter und ihre Tochter dann doch geschafft. Als ich gerade auf das obligate Begrüßungs-„Na, alles klar?“ mein Getränkeangebot machen will, gibt es eine kurze Irritation: Das abzuholende Kind fehlt. Alle anderen Kinder sitzen um den Geburtstagstisch und schaufeln sich Pommes auf die Teller.
„Grad war sie noch da!“ Keine Ahnung, ob das stimmt. Ich muss Zeit gewinnen!
„Hat sich wohl versteckt.“ Stolpere leicht hektisch durchs Haus. Das Gastkind bleibt verschwunden.
„N.N.!! Deine Mama ist da!“ Übersetzung: Wenn du jetzt nicht bald auftauchst, liebes Kind, dann kommst du für alle Zeiten auf die schwarze Liste, auch wenn du die beste Freundin meiner Tochter bist. „N.N.!!!!“ Mittelhysterisch.
Dann klingelt es an der Tür: Das gesuchte Gastkind. Hatte sich im Garten versteckt. Ohne Schuhe, ohne Jacke. Vom Abendessen hatte das wiedergefundene Gastkind gar nichts mitbekommen. Nicht so schlimm, nein. Findet auch ihre Mutter. Nur diesen einen fiesen, undankbaren Satz hätte sie sich sparen können: „Warum bist du denn schon da, Mama, wir hatten noch gar keine Zeit zum Spielen!“