Wir wollen aufs Land ziehen. Ein Satz wie eine Sturzgeburt. Gestern noch jung und hip und Großstadtbewohner – heute Familienmensch und plötzlich verantwortlich für einen neuen Menschen, der andere Bedürfnisse hat als man selbst. Irgendwann zwischen 30 und 40 setzt dann bei manchen Eltern die Stadtflucht ein, sie ziehen aufs Land in ein Dorf, in eine Kleinstadt – oder in den Speckgürtel einer Metropole. Das klingt ja zu verführerisch: Auf dem Land ist mehr Platz, die Blumen blühen, die Bienen summen, die Welt ist noch in Ordnung. Soweit die Klischees. Aber ganz davon abgesehen, dass Land nicht gleichbedeutend mit Astrid Lindgrens Bullerbü oder Michels Katthult-Hof ist, und nicht jeder Landbewohner ein freistehendes Eigenheim mit großem Garten, gleich einen ganzen Bauernhof oder einen Streichelzoo zur Verfügung hat: Wo lebt es sich denn nun besser, auf dem Land mit all dem Platz, dem Grün und Güllegeruch, oder der Stadt mit all ihren Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten?
Die Frage berührt mehr als das bloße Familienglück, denn, so viel sei vorweg gesagt, eine glückliche Kindheit ist überall möglich. In einem föderal organisierten Land wie Deutschland, das erst spät zur Einheit fand und gedanklich noch immer in kleine Fürstentümer zersplittert ist, wird die Debatte schlichtweg schon seit Jahrhunderten geführt, oft unversöhnlich: Schon im Mittelalter galten Städte in den Augen vieler Landbewohner als dreckig, korrumpiert und voller schräger Vögel, Diebe und Hurenböcke aller Art. Städter reagieren zu allen Zeiten sauer bis belustigt, wenn sie solche pauschalen Urteile hören. Die Landeier! Keine Ahnung haben die! Auch heute noch spielen Stadt-Land-Konflikte eine Rolle, zum Beispiel als der ehemalige Berlin-Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky seinen Bestseller „Neukölln ist überall“ veröffentlichte. Der Berliner Kiez mit dem hohen Migrantenanteil und den sozialen Problemen ist spätestens seitdem vor allem auf dem Land so etwas wie die Chiffre für Parallelgesellschaften und Kriminalität. Und überhaupt für alles, was in der Stadt schieflaufen kann.
Dass das einseitig ist, wissen zum Glück nicht nur diejenigen, die gerne in Neukölln abends rausgehen, die Restaurants besuchen und die quirligen Straßen mit ihren abwechslungsreichen Angeboten an Geschäften nutzen. Soziale Probleme, Gewalt und Kriminalität kommen ebenso vor in Neukölln, Schwarz-Weiß-Erzählungen aber helfen keinem weiter, es sei denn, man fühlt sich wohl in seinen Elfenbeintürmen an Ressentiments und Klischees. Und so verhält es sich generell mit den Klischees über Stadt und Land: Wer Dörfer für Kulissen der neuen Folge von „Bauer sucht Frau“ hält, wird im Hunsrück, Westerwald oder der Schwäbischen Alb nur Bauerntölpel entdecken. Wer Städte für den Hort aller gesellschaftlichen Probleme schlechthin hält, wird nur noch Clanstrukturen erkennen und selbst die Eisdiele unter Aspekten der Schutzgeldkriminalität betrachten. Dass beide Haltungen in ihrer Pauschalität blanker Unsinn sind, muss hier nicht weiter erörtert werden. Im harmlosen Fall dienen Stereotype ja auch nur der Auszeit und der Erholung für stressgeplagte Städter und Landbewohner – Zeitschriften wie „Landlust“ leben davon. Auch der Deutsche Alpenverein, der in seiner neuesten Ausgabe des „Panorama“-Heftes eine Geschichte bringt, in der die Großstadt als mehr oder minder übler Gegenpol zum idyllischen Alpenland herhalten muss, stimmt gelegentlich in den Chor ein. Als wenn das die Alternativen sind.
Dabei ist das eine Erwachsenendiskussion: Für Kinder ist die intakte Natur zwar wichtig, aber nicht für die Erholung. Kinder brauchen ein vernünftiges soziales und familiäres Umfeld und viel Kontakt zu Gleichaltrigen. Was nützt einem Kind die schöne Blumenwiese, wenn es darauf alleine spielt? Was nutzen die vielen kulturellen Angebote einer Großstadt, wenn es vereinsamt in einer Hochhaussiedlung hockt? Darüber hinaus haben Stadt und Land ihre Eigenheiten – und damit auch Vor- und Nachteile:
Entdeckerland
Kinder wollen auf Entdeckertour gehen, bauen, basteln, gestalten. Solche Räume gibt es in Dörfern, im Wald, auf abgeernteten Feldern. Aber auch in Städten, auf Spielplätzen, Bauspielplätzen, in Parks. Studien und der gesunde Menschenverstand belegen allerdings, dass Landkinder früher auf eigene Faust losziehen, derweil Stadtkinder länger an der Hand der Eltern unterwegs sind, aus nachvollziehbaren Gründen: Autoverkehr, Straßenbahnen, Fahrradfahrer, insgesamt die viel größere Bevölkerungsdichte, sorgen für größere Gefahrenquellen. Die Luft ist in der Regel auf dem Land besser, das ist natürlich ein wichtiger Standortfaktor, der fürs Land spricht. Die Zahl der Atemerkrankungen soll deshalb in urbanen Gegenden höher sein. Luftschadstoffe können Krankheiten wie Pseudokrupp begünstigen, aber dazu reicht auch eine Raucherwohnung auf dem Land.
Gleichaltrige
Je älter Kinder werden, desto mehr treten sie aus dem elterlichen Schatten und desto wichtiger werden gleichaltrige Freunde. Kinder lernen so, sich mit anderen auseinanderzusetzen, Bündnisse zu schließen, sich zu behaupten – und Empathie für die Bedürfnisse anderer zu entwickeln. Zwar kann es in ländlichen Gemeinden einen stärkeren Zusammenhalt durch die gewachsenen Nachbarschaften und oftmals umtriebigen Vereine geben, dafür ist die Betreuungsquote in Städten höher, auch weil das Angebot an Betreuungsmöglichkeiten besser ist. Der engere Raum und die Bevölkerungsdichte in Städten sorgen für dichte Kontaktmöglichkeiten, in der Siedlung, den Spielplätzen, auf den Bürgersteigen und Innenhöfen. In Städten sind die Distanzen kürzer – vor allem die Eltern von Teenagern auf dem Land dürften ein Klagelied anstimmen, dass sie ihre Kinder überall hinfahren müssen, weil der öffentliche Nahverkehr so schlecht ausgebaut ist.
Vorbereiten fürs Leben
Dörfer und Landkreise sind in der Regeln homogener, was die soziale und kulturelle Herkunft angeht. Wer in Großstädten aufwächst, erfährt Migration zum Beispiel nicht nur als Medienthema, sondern als Alltag. Alltag in der Nachbarschaft, in der Schule, auf dem Spielplatz. Und im persönlichen Kontakt verliert vieles den Schrecken, das gilt genauso für die soziale Herkunft: Zwar separieren sich die Bevölkerungsschichten und Einkommensklassen auch in der Stadt. Wer in Berlin-Charlottenburg lebt, tut dies in anderer Nachbarschaft als in besagtem Neukölln. Aber die Distanzen sind geringer, man begegnet sich leichter. Wenn man nicht gerade im Nobelstadtteil Grunewald wohnt und mit seinem Porsche nur direkt auf die Autobahn nach Potsdam fährt, wird man als Berliner zwangsläufig leichter andere Lebensentwürfe kennenlernen als zum Beispiel in einem kleinen Dorf an der Mosel. Das kann anstrengend sein – in der Regel gewinnt man aber mehr als man verliert. Und da wir alle in einer zunehmend vielfältigen Gesellschaft leben, kann es nicht schaden, schon als Kind ein wenig vorbereitet zu sein.
Im Idealfall haben alle die freie Wahl, wo sie leben. Aber die Mietpreissituation zwingt gerade junge Familien oder Alleinverdiener in die Außenbezirke oder ganz aufs Land. Die Gutverdiener können es sich leisten, in die Reißbrett-Siedlungen am Stadtrand zu ziehen, die oftmals nicht schlecht an den öffentlichen Nahverkehr angeschlossen sind. Ob einem das gefällt, ist Geschmackssache: Zum einen sind die oft ideal für Kinder, weil bestens ausgestattet mit Spielplätzen, und der Verkehr hält sich auch in Grenzen. Andererseits neigen diese Siedlungen zur sozialen Homogenität und damit Abgeschlossenheit. Eltern sollten ja auch nicht ihre eigenen Bedürfnisse vergessen und überlegen, wo sie sich am wohlsten fühlen. Und dann gibt es ja noch den Urlaub, um das zu genießen, was einem sonst im Alltag fehlt: Wandertouren für den Städter, Städtereisen für die Dorfbewohner. Als Auszeit für stadtgeplagte Städter oder landgenervte Landbewohner. Und als Horizonterweiterung.