Ich bin sehr froh, dass es Sportvereine gibt. Und Turnhallen. Und Wettkämpfe und Pokale. Ich möchte nur nichts damit zu tun haben.
Habe ich aber. Weil zwei meiner Töchter Sport in einem Turnverein betreiben. (Um ihre sportliche Karriere nicht zu gefährden, behaupte ich mal hier, dass sie einer exotischen, neuen Sportart anhängen, bei der sie zu Singer-Songwriter-Musik in Miniröcken Rad schlagen und dafür viel üben müssen.)
Ich bin auch froh, dass meine Kinder nicht meine Aversion gegen organisierte körperliche Betätigung übernommen haben. Oder gegen schlecht gelüftete Turnhallen. Oder gegen übellaunige Trainer. Nein, sie wollen da hin. Mindestens einmal in der Woche, manchmal sogar drei- oder viermal. Es scheint ihnen Spaß zu machen. Und ich will sie da auch nicht ausbremsen, zumindest nicht offen. Denn theoretisch weiß ich schon, wie wichtig das Ganze ist. Wie hilfreich für die Gesundheit, für die Persönlichkeitsentwicklung, für die soziale und auch die andere Intelligenz. Jede regelmäßige sportliche Betätigung ihrer Kinder sollten Eltern von ganzem Herzen fördern, unbedingt! Schließlich muss man ja heute schon dankbar sein, wenn man mal irgendwo rennende oder hüpfende oder tanzende oder kletternde Kinder sieht. Und nicht nur Kinder, die auf Smartphones starren und über Displays wischen oder Fortnite spielen. Nur 22,4 Prozent der Mädchen und 29,4 Prozent der Jungen im Alter von drei bis 17 Jahren erreichen überhaupt noch die Bewegungsempfehlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), sind also mindestens 60 Minuten körperlich aktiv pro Tag. So der dramatische Befund der KiGGs-Langzeitstudie des Robert Koch-Instituts zur gesundheitlichen Lage der Kinder und Jugendlichen in Deutschland. Eine andere Studie im Auftrag des AOK-Bundesverbandes kommt sogar auf noch niedrigere Werte: Danach seien nur noch zehn Prozent der Kinder so aktiv wie empfohlen.
Verständlich, dass einem da als Lösung die Sportvereine einfallen. Rund 90.000 gibt es von ihnen in Deutschland. Wenn ich politischer Redenschreiber wäre, würde ich jetzt betonen, dass diese vielen tausend Sportvereine auch das Rückgrat der Gesellschaft sind, die Säule des organisierten Sports, der Motor von Integration, der Lernort für Fairplay, Respekt und Zusammenhalt. Und so weiter. Ich bin aber nur der Vater von zwei Kindern, die Spaß daran gefunden haben, in Turnhallen Rad zu schlagen. Ich denke da in der Regel nicht an das große Ganze. Für mich ist der Sportverein deshalb im Moment vor allem: zwei monatliche Abbuchungen vom Girokonto, vier bis acht zusätzliche Kindertransport-Termine im Monat, ein paar Wettkampf-Wochenenden auf harten Turnhallen-Bänken sowie der „Freiwilligeneinsatz“ bei Vereinsfesten oder -turnieren („Der Aufbau ist für alle Eltern verpflichtend, wir brauchen jede Hand.“). Für meine Frau kommen zusätzlich noch die Absprachen mit den anderen Vereinseltern und dem Trainer hinzu – ich krieg das bisher nicht hin. Wirklich.
Ich muss gestehen: Im Vergleich zu den vielen, vielen Eltern in Deutschland, die ihre Kinder jedes Wochenende auf Sportplätze oder zu Auswärtsspielen begleiten, sich in offiziellen und inoffiziellen Ehrenämter im Verein engagieren, nebenher noch Sitzungsprotokolle führen oder den Vereinsrasen in Schuss halten oder Geburtstagsgeschenke für den Trainer besorgen, bin ich ein Jammerlappen, Faulenzer und Trittbrettfahrer. So gut es geht, drücke ich mich davor, Vereinsverpflichtungen zu übernehmen. Ja, meine Kinder profitieren vom Engagement der Fremdeltern. Aber ich kann nicht Verein, schon gar nicht Sportverein. Ich wollte nie in einem Sportverein mitmachen. Nie.
Und dann ist der soziale Druck irgendwann doch zu hoch – und ich knicke ein. Zum Beispiel wenn die Rad schlagende Minirock-Abteilung des Vereins ein Turnier ausrichtet. Und wirklich alle Eltern gebraucht werden. Wirklich alle. Es ist der Zusammenprall mit dieser völlig fremden Lebenswelt, mit den Engagierten, den Aktiven, den Insidern, den Organisierten und Organisierern, vor der mir dann am meisten graut. Nicht das bisschen Bierbänke schleppen oder Absperrungen aufbauen. „Könntest du noch die Müllsäcke wegbringen und Sabine die 20 Euro für unser Geschenk geben!“ Genau das meine ich. Ich weiß nicht, wer da mit mir spricht, wo der Müll hin muss, wer Sabine ist und warum um Gottes Willen die schon wieder Geld von mir wollen. Aber ich kann lächeln. Manchmal.
„Alle Kinder in den Sportverein!“, fordert die Jugendorganisation des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), die Deutsche Sportjugend (dsj). Die Verbandsfunktionäre haben dazu auch einen Zukunftspreis ausgelobt für „Sportvereine, die Kindern mit erschwerten Zugangsbedingungen zu den Strukturen Wege zum Vereinssport ebnen“. Weil das selbst den Verfassern zu verquast klingt, erklären sie mit einer Fußnote, was „erschwerte Zugangsbedingungen“ sind: Die „ergeben sich beispielsweise aus sozioökonomischen (gesellschaftlich oder wirtschaftlich schlechter gestellte Familien), religiös-kulturellen oder auch geschlechtsspezifischen Gründen“.
Wahrscheinlich bin ich auch eine „erschwerte Zugangsbedingung“ für meine Kinder. (Wenn ich so in die Gesichter mancher Eltern bei ihren „Freiwilligeneinsätzen“ im Verein schaue, geht es auch anderen so.) Seien wir ehrlich: Wenn die Eltern weder sport- noch vereinsaffin, vielleicht sogar beide berufstätig sind, mehr als nur ein Kind zu versorgen haben, dann ist der Vereinssport der Kinder inzwischen vor allem ein weiterer Energieabfluss für die Erwachsenen. Die chronisch überforderte Ressource Eltern (Beruf, Haushalt, Schule, Kita, Google) soll dann bitteschön auf Zuruf noch Kuchen backen, Trainingskleider besorgen, Termine koordinieren und Fahrdienste übernehmen. Zugegeben: Nicht jeder muss alles machen. Aber glaubt denn da im Ernst jemand, dass „Kinder aus beispielsweise wirtschaftlich schlechter gestellten oder bildungsfernen Familien durch besondere Projekte, Maßnahmen oder Aktionen den Zugang zu Sportvereinsangeboten finden“, wie es sich die Verbandsfunktionäre erhoffen?
Richtig ist: Vereinssport bietet sich als Outsourcing-Lösung für das Bewegungsproblem der Kinder an. Auf Sportplätzen und in Turnhallen stört ihr natürlicher Bewegungsdrang die Erwachsenenwelt nicht mehr – und er ist organisier- und terminierbar und meist von einem Erwachsenen beaufsichtigt. Und im besten Fall haben die Kinder Spaß, lernen was fürs Leben, tun was für die Gesundheit und bringen Pokale mit nach Hause. Für die Eltern ist der Kindersport aber vor allem ein weiterer Eintrag im Wochenkalender, noch ein Pflock in einem ohnehin stark durchgetakteten Leben. Zwang und Opfer, nicht Freizeit ist das für die Eltern. Nur um mal mit einem Missverständnis aufzuräumen.
Kooperative Eltern sind also die wichtigste Zugangsbedingung für den Kindersport. Deshalb wäre es gut, wenn Verbandsfunktionäre, Vereinsabteilungsleiter und Trainer die Lebenswelt von Familien mit mehr Empathie in den Blick nehmen würden. (Ach, ich wäre schon froh, wenn sie sie überhaupt wahrnehmen würden. Und nicht einfach unterstellen, dass Eltern automatisch die gleiche Leidenschaft für Fußball, Hockey, Handball oder Rad schlagen in stickigen Turnhallen haben wie ihre Kinder.) Vielleicht komme ich dann öfter.
„Das war ein wunderschöner Tag, Papa!“ Meine Älteste fällt mir nach dem Vereinsturniertag auf dem Weg aus der Turnhalle um den Hals. Ob es mir denn auch Spaß gemacht habe. Ja klar. Selbstverständlich. Unbedingt.