„Ihr dürft auf keinen Fall herkommen, auf mich wird geschossen!“, sagte Opa neulich am Telefon. Wir waren gerade mit unseren beiden Kindern in den Zug gestiegen, um ihn zu besuchen. Ich sah zunächst nur, wie meinem Mann am Handy die Gesichtszüge entglitten und hörte ihn merkwürdige Nachfragen stellen. Wie ich später erfuhr, ging die ganze Geschichte so: Sein Vater hatte auf der Hochzeit seines Angestellten, eines Kraftfahrers, den Chauffeur gespielt, als Unbekannte das Feuer eröffneten. Wir sollten umkehren, oder nein, lieber nicht umkehren, aber am Bahnhof gleich zur Polizei gehen und unseren Namen nennen, dort wisse man Bescheid. „Aber Heinrich, du hast doch gar keine Angestellten!“, sagte mein Mann zu ihm. „Es ist etwas kompliziert“, gab Opa zu. Er werde sich wieder melden, wenn die Gefahr vorüber sei.
Drei Stunden später, es war früher Nachmittag, saß derselbe Opa im abgewetzten Bademantel entspannt auf seinem Sofa, streichelte seinen alten English Setter und freute sich, uns zu sehen. „Hattet ihr eine gute Fahrt?“ Unser Vierjähriger setzte sich zu ihm und plapperte drauflos, von dem Aussetzer zuvor hatte er nichts mitbekommen. Glück gehabt, wieder einmal. Die Gefahr war vorüber.
Der Vater meines Mannes ist 80 Jahre alt und dement, und zwar seit mindestens sechs Jahren, schätzen wir. Die Diagnose bekam er vor drei Jahren, nach einem mysteriösen Kollaps in seinem Haus. Er ist Witwer und wohnt 200 Kilometer von uns entfernt. Der Versuch, ihn nach einem längeren Krankenhausaufenthalt in einem Seniorenwohnheim mit Demenzstation unterzubringen, endete erfolglos und mit hässlichen Vorwürfen seinerseits. (Das Gute an der Krankheit: Er ist nicht mehr nachtragend.) Seit einiger Zeit bringt die örtliche Sozialstation ihm Essen und Medikamente, eine Nachbarin hält sein Haus in Schuss und versorgt den Hund und die zwei Katzen, ein anderer Nachbar kümmert sich um den Garten. Wenn wir ihn nicht besuchen, rufen wir regelmäßig an; haben ein schlechtes Gewissen, wenn wir es mal vergessen haben; hoffen, dass er nicht wieder gestürzt ist, wenn die Nummer eines Nachbarn auf dem Handydisplay erscheint.
Mein Schwiegervater vergisst und verliert nicht nur Dinge und stellt mehrmals dieselben Fragen, sondern macht auch abenteuerliche Sachen, die ihm so gar nicht ähnlich sehen. „Tüdeldü-Opa“ nennen wir ihn, wenn wir solche Schoten über ihn erzählen – etwa, wie er einmal lange vermisst wurde und sich schließlich herausstellte, dass er sich zum wiederholten Male ein paar schöne Stunden im Saunaclub gemacht hatte. Meistens aber gibt es nichts zu lachen. Die sogenannte vaskuläre Demenz ist undurchschaubar und unberechenbar. Der Zustand des Erkrankten verschlechtert sich nicht linear, sondern quasi kaskadenartig, und man weiß nie, wann der nächste Einbruch kommt. Manchmal wirkt mein Schwiegervater auch wochenlang fast normal, weiß die Namen unserer Kinder, den Wochentag und sogar seine Bank-PIN, und wir fragen uns, ob das die Medikamente machen oder ob WIR womöglich den Schuss nicht gehört haben. Manchmal wiederum ist es einfach zum Verzweifeln mit ihm, oder auch tieftraurig – etwa, wenn die Erinnerung an seine verstorbene Ehefrau wiederkommt und er anfängt zu schluchzen.
Die Demenz frisst nicht nur seine Erinnerungen, sondern mehr und mehr seine Persönlichkeit auf. Bei einigen seiner Charaktereigenschaften ist das freilich kein Verlust – er ist ein schwieriger Mensch, und mein Mann und er hatten schon immer ein eher durchwachsenes Verhältnis. Es ist eben nicht wie in diesem unerträglich süßlich-klebrigen Film „Honig im Kopf“, in dem der liebenswert-trottelige Opa heute die Diagnose bekommt, morgen die Küche in Brand setzt und übermorgen mit seiner Enkelin auf Abenteuerreise geht, um am Schluss noch mal allen zu sagen, wie lieb er sie hat.
In unserer Realität wird gerade das Verhältnis zu seinen Enkeln immer mehr zum Problem. Opa war noch nie ein Typ für Abenteuerreisen, das ist auch nicht schlimm. Unser Sohn Ben mag ihn und sucht den Kontakt zu ihm. Allerdings wirkt mein Schwiegervater bei unseren Besuchen zunehmend überfordert von der Anwesenheit der Kinder, es ist ihm zu laut und zu chaotisch, man merkt, er kann dem Gewusel nicht folgen. Zwar ist er in der Regel freundlich zu Ben, und das Baby in der Trageschale hat er kürzlich eine Weile lang mit einem seligen Lächeln beobachtet. Oft aber kommt Bens Geplapper bei ihm gar nicht richtig an, er starrt ins Leere und antwortet ihm nicht, und Ben wird ungeduldig. Und wenn er mit dem Kind spricht, dann scheint es manchmal, als fehlten ihm die richtigen Worte: „AUS!“, schrie er Ben einmal an, als er zu laut war, so als wäre sein Enkel ein English Setter.
Vieles ist nicht wirklich schlimm, aber irritierend für Ben: Opa ist für Spiele nicht zu haben; Opa raucht in der Wohnung; Opa mieft manchmal etwas; Opa braucht sehr lange zum Fertigmachen; Opa wartet mit dem Essen nie bis zum Tischspruch. Geschenke zum Geburtstag oder zu Weihnachten gibt es von Opa nicht. Meistens kennt er ja nicht mal die Daten. Wenn wir gemeinsam unterwegs sind, kann es schon mal sein, dass mein Schwiegervater sich mit seinem wackeligen Gang von uns absetzt und wir uns verwundert umschauen, wo er abgeblieben ist. Beim letzten Besuch überquerte er einfach unvermittelt eine Straße. Ich lief ihm erschrocken hinterher und sah nicht, dass Ben, der hinter meinem Mann lief, sich empörte und schon mit einem Fuß auf der Straße stand: „Man DARF nicht einfach über die Straße gehen! Ich will auch!“
Kräftezehrend sind die Besuche beim Opa schon lange, langsam aber werden sie gefährlich. Die Situation beginnt, uns über den Kopf zu wachsen, aber wir können nichts tun – ihn gegen seinen Willen ins Seniorenheim zu stecken, selbst wenn das medizinisch möglich wäre, erscheint uns unmenschlich. Also müssen wir uns mit der Angst arrangieren – und er selbst merkt hoffentlich nicht mehr allzu oft, dass er zwar frei, aber auch unendlich einsam ist. Wenn wir die Haustür aufschließen, geht mein Mann immer ein paar Schritte voraus und ich und die Kinder warten, weil wir nie wissen, in welchem Zustand wir meinen Schwiegervater antreffen. Zwar hat Ben uns bisher nicht gefragt, was mit dem Opa los ist, und ich weiß auch nicht, was ich ihm dann antworten sollte. Aber wir glauben, dass er unsere Anspannung spürt. Auch, weil wir jetzt noch ein zweites Kind haben, das uns zusätzlich in Beschlag nimmt, sind die Besuche beim Opa seltener und kürzer geworden. Wir können nicht über längere Zeit auf zwei kleine Kinder und ein großes Kind gleichzeitig aufpassen.
Immerhin, die Krankheit hat auch etwas zum Positiven verändert. Mein Schwiegervater sagt mittlerweile Dinge wie: „Ich freue mich, dass ihr kommt“, das hätte man früher von ihm nie gehört. Und beim Abschied ist er zwar immer ein bisschen erschöpft von dem Trubel, aber auch sichtbar geknickt. „Nächstes Mal könnt ihr ja ein paar Tage länger bleiben“, sagt er jedes Mal. „Auf jeden Fall!“, lügen wir jedes Mal. Und hoffen, dass er das wieder vergisst.