In Berlin ist ein elfjähriges Mädchen an den Folgen seines Suizidversuchs gestorben. Die genauen Hintergründe sind noch unklar, aber es heißt, das Mädchen habe sich von Schulkameraden gemobbt gefühlt. Man muss keine eigenen Kinder haben, um von dieser Nachricht schlichtweg entsetzt zu sein.
Dass es in einer solchen Katastrophe mündet, liest man zum Glück äußerst selten, aber es gibt leider wohl kaum eine Schule, in der nicht täglich Mobbing irgendeiner Art stattfindet. Ich habe es vor einer gefühlten Ewigkeit selbst erlebt. So wie es in jeder Klasse den Klassenclown gibt und den Jungen- oder Mädchenschwarm, gibt es auch den Streber, und der war ich. Ich hatte gute Noten, deshalb war ich ein Feindbild – außer, wenn es ums Hausaufgaben abschreiben ging, da war ich offenbar ganz okay. Fast jedes Mal, wenn wir eine Klassenarbeit zurückbekamen oder wenn ich mich im Unterricht zu Wort meldete, gab es Sprüche und Getuschel. Erschwerend kam hinzu, dass ich nie die Modetrends mitmachen konnte, die es zu der Zeit so gab. Ich erinnere mich, wie in der sechsten oder siebten Klasse in der Clique der coolen Mädchen eines nach dem anderen mit der gleichen Hose auftauchte: gelb mit grünen Karos. Ich habe diese Hose natürlich nicht bekommen, ich habe es nicht einmal darauf angelegt, denn sie war hässlich, und sie war teuer. Aber vor allem unterteilte sie die Mädchen der Klasse optisch in die, die dazugehörten – und die, die es nicht taten.
Es tat mal mehr, mal weniger weh, Außenseiter zu sein. In der Oberstufe wurde es besser und ich selbstbewusster, aber ich habe das Gefühl nie vergessen. Damals gab es freilich noch kein Facebook zum Angeben oder Instagram für den Schönheits-Wettbewerb oder Whatsapp zum bequemen virtuellen Dissen. Deshalb frage ich mich, wie es heutigen Strebern und Uncoolen wohl erst ergehen muss. Und mir wird angst und bange, wenn ich daran denke, dass mein großer Sohn in spätestens zweieinhalb Jahren eingeschult wird. Als Eltern haben wir nur wenig Einfluss darauf, wie er sich in diesem neuen sozialen Umfeld einfügt, in welcher „Schublade“ er landet. Wir könnten uns dafür einsetzen, dass er mit seinen Kita-Kumpels in eine Klasse kommt, damit er einen Kreis von Vertrauten um sich hat. Wir könnten ihm theoretisch die spektakulärsten Kindergeburtstage ausrichten und die angesagtesten Sachen kaufen, damit er stets up-to-date ist (praktisch ist mir das absolut zuwider) – kurzum: versuchen, alles zu tun, damit er nicht zum Opfer wird. Doch wer weiß, ob das reicht? Die soziale Dynamik innerhalb einer Gruppe ist unberechenbar, und wenn es nicht das „falsche“ Outfit oder das „falsche“ Smartphone ist, dann suchen sich die vermeintlich Stärkeren eben irgendetwas anderes, für das sie die vermeintlich Schwächeren hänseln können.
Die Sorge, dass ihre Kinder zu den Schwächeren gezählt werden und Gemeinheiten von Schulkameraden ertragen müssen, kennen vermutlich sehr viele Eltern. Aber was man häufig vergisst: Es kann auch andersherum kommen. Was, wenn die eigenen Kinder diejenigen sind, die sich als die Stärkeren fühlen und andere hänseln? Können wir die Hand dafür ins Feuer legen, dass unsere Kinder nicht zu Tätern werden?
Mein großer Sohn Ben ist vier Jahre alt und hat in unserer altersgemischten Kita eine kleine „Gang“ aus ähnlich alten Kindern, größtenteils Jungs, die gemeinsam oftmals ordentlich auf die Pauke hauen, aber selten groben Unfug verzapfen. Erschrocken erfuhr ich eines Tages, dass ein Junge namens Leo, der mit dreieinhalb Jahren etwas jünger ist als der Rest, innerhalb dieser Gruppe manchmal ausgegrenzt wird – auch von meinem Sohn Ben. Leo darf dann schlicht plötzlich nicht mehr mitspielen. Auf meine Frage, was man denn da machen könne, sagte die Erzieherin: erst mal nichts. Konflikte innerhalb einer Gruppe seien normal, gerade beim Spielen, und die Kinder müssten sie ein Stück weit selbst zu lösen lernen. Sie selbst würde erst dann eingreifen, wenn immer nur das gleiche Kind unter die Räder käme, das war ihrer Meinung nach aber nicht der Fall. Ich war erst einmal beruhigt. Kurze Zeit später habe ich dann beobachtet, wie Leo auf dem Kindergeburtstag meines Sohnes auf dem Spielplatz allein und weinend im Gras saß, während die anderen Kinder lachend im Pulk hinter einem Wurfgleiter aus Styropor herrannten. Offenbar hatte Leo ihn auch einmal halten oder werfen wollen, aber irgendwie hatten ihn die anderen abgedrängt. Seine Mutter kannte ähnliche Szenen offenbar schon, tröstete ihn und die Sache war schnell vergessen, aber mir war es sehr unangenehm.
Nicht mitspielen dürfen oder mal stehengelassen werden – davon allein dürften zwar die wenigsten Kinder in diesem Alter ein Trauma fürs Leben bekommen, und ganz sicher haben mein Sohn und die anderen Kinder hier kein bewusstes, systematisches Mobbing betrieben. Insofern ist jetzt sicher noch keine Panik angebracht. Aber irgendwo fängt es ja an, mit der Grüppchenbildung, mit dem Ausschließen von anderen. Und mir ist bewusst geworden: Es ist eben kein Automatismus, dass das eigene Kind immer zu den „Guten“ gehört, also zu denen, die gegen Gemeinheiten anderer verteidigt werden müssen (mal davon abgesehen, dass das ohnehin nur bedingt funktioniert). Es sind nicht immer nur die anderen. Nicht „die Mitschüler, die angefangen haben“. Nicht „die Lehrer, die nichts dagegen unternommen haben“. In erster Linie sind wir Eltern gefragt. Wir müssen aufpassen, dass das (wünschenswerte) Selbstbewusstsein unserer Kinder nicht in Überheblichkeit umschlägt und Stärke nicht in Arroganz. Hoffentlich merken wir das rechtzeitig und können verhindern, dass es passiert. Wie das in der Praxis funktioniert? Keine Ahnung. Wir können nur versuchen, Ben klarzumachen, dass weder Noten noch Hosen etwas über den Wert von Menschen aussagen, und dass man auf andere Kinder Rücksicht nehmen soll. Wir müssen hoffen, dass unter seinen Schulkameraden einige sind, die das auch so lernen und unter den Lehrern solche, die das auch so lehren. Und vor allem, dass er sich niemals zwischen einem Opfer- und Täterdasein entscheiden muss.