Schlaflos

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Das Familienblog der F.A.Z.

Sind wir arm oder reich, Papa?

© Picture AllianceSind wir eigentlich reich? Und wenn nein, warum nicht?

Eine unserer Töchter hat eine Freundin, die mich regelmäßig sprachlos macht. Sie sagt dann etwas, was so außerhalb meines Erwartungshorizontes liegt, und ich denke: Mädchen, von welchem Stern kommst du eigentlich? Dann muss ich grinsen und sie weiß nicht warum. So wie bei der Rückfahrt vom Kinobesuch. Wir warten auf den Bus, der uns in fünf Minuten nach Hause fahren wird. Vier Kinder, ein Erwachsener (ich). Es regnet, es ist kalt und auch ein bisschen langweilig. Plötzlich fragt die Freundin ganz ernsthaft: „Warum können wir nicht mit dem Taxi fahren? Da drüben stehen doch welche!“

Ich mag diese Freundin meiner Tochter, aber es gibt eben diese Augenblicke der Fassungslosigkeit. Weiß sie wirklich nicht, was Taxifahrten kosten? Oder ein Kinobesuch für fünf Personen plus Knabberkram? Oder sind Budgetlimits einfach noch keine Kategorie für sie?

Und dann ahne ich, dass sie ihren Eltern noch nie die Frage gestellt hat, die alle meine Kinder schon gestellt haben. Selbst die Fünfjährige. Dass sie nicht zu den Kindern gehört, die diese Frage stellen müssen. Es ist eine verständliche, wenn auch sehr komplexe Frage: „Sind wir arm oder reich, Papa?“ Mit dieser Frage werden wahrscheinlich nur Eltern konfrontiert, die statistisch irgendwo in der Mitte der Einkommens- oder Vermögens-Verteilung angesiedelt sind – wobei „Mitte“ ein sehr weites Feld ist, sie reicht von „knapp über Hartz IV“ bis zu „Spitzensteuersatz trotz Ehegattensplitting“. Die Kinder der reichsten zehn Prozent jedenfalls wissen schlicht, dass sie reich sind, die müssen nicht nachfragen. Und die der ärmsten zehn Prozent ahnen ihren Status auch sehr bald. Nur der Nachwuchs dazwischen braucht Orientierung bei der Selbstverortung. Meine Kinder zum Beispiel. „Also sag schon, Papa! Sind wir arm oder reich?“

Ich habe mir angewöhnt, sehr konträre Botschaften als Antwort auf diese Frage zu senden. Die erste Botschaft: „Wir sind ziemlich reich.“ Und ich meine das dann nicht mal im Vergleich zu irgendwelchen Familien in irgendwelchen Entwicklungsländern. Die Aussage ist auch völlig losgelöst von einer realistischen Selbsteinschätzung in deutschen Einkommens- oder Vermögens-Dezilen, von Nettoäquivalenzeinkommen oder anderen statistischen Größen. Damit ist auch nichts Vergeistigtes à la „Wir sind reich, weil wir uns lieb haben“ gemeint – für derlei Kitsch sind Kinder bei dieser Fragestellung nicht empfänglich. Hier geht’s um was anderes – ums Trösten, ums Beruhigen. „Wir sind reich“ heißt hier: Alles ist gut, alles wird gut, wir werden auch künftig ein Dach über dem Kopf haben; ihr werdet auch künftig Kleider bekommen, wenn die alten nicht mehr passen; es wird zu essen geben, Urlaub ist auch drin. Ihr habt sogar ein bisschen eigenes Geld. Vor allem: Ihr werdet nicht beschämt werden, weil ihr arm seid. Alles ist gut. Das ist natürlich reine Psychologie, nicht durch irgendwelche antizipierten ewigen Zahlungsströme gedeckt oder vom Family Office einer Erbengemeinschaft. Aber es ist notwendige Psychologie. Denn hinter der Frage, wie arm oder reich wir sind, versteckt sich eine große Sorge. Und die gilt es zuallererst zu beantworten. Es ist wichtig, Kindern ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln, gerade in Bereichen, die sie nicht oder wenig beeinflussen können, wie bei Finanzthemen.

Die zweite Botschaft ist das genaue Gegenteil der ersten: Sie ist eher warnend, verunsichernd und – im besten Fall – aktivierend. Sie lautet aber nicht „Wir sind arm“, nie, sondern zum Beispiel „Also wir können uns wirklich nicht alles leisten“ oder „Das ist zu teuer für uns“ oder „Wir können nicht jede Woche mit allen ins Kino gehen“. Dieses Wording kann man nun für die typische Psychohygiene von Eltern halten, deren Haushaltseinkommen regelmäßig hinter den eigenen Erwartungen zurückbleibt. Wahrscheinlich spielt das eine Rolle. Aber die Wahrheit ist auch: Schon das Wort „arm“ lähmt. (Etymologisch scheint das Wort sinngemäß verwandt mit einsam, verlassen, verwaist, zurückgelassen.) Deshalb würde ich nie sagen, dass wir arm wären. Aber ich will selbstverständlich, dass unsere Kinder einen realistischen Blick auf unsere finanziellen Möglichkeiten bekommen. Und auf die gesellschaftlichen Arrangements, in die sie hineingeboren wurden. Das führt zwangsläufig dazu, dass in den Kinderhirnen Gerechtigkeitsfragen aufpoppen. Und dass Eltern wie wir uns regelmäßig über angebliche soziale Wohltaten für Familien erregen, die uns komischerweise nie erreichen (Baukindergeld, Starke-Familien-Gesetz, etc. pp.) Aber das ist ein eigenes Thema.

Was machen Kinder nun mit so widersprüchlichen Antworten auf eine so existenzielle Frage, wie der, ob die eigene Familie arm oder reich ist? Ganz einfach: Sie gleichen das Gehörte mit der Lebenspraxis in der Familie ab und mit den Konsumgewohnheiten in ihrer Peergroup. Sie bekommen dadurch sehr schnell ein feines Gespür dafür, was für sie drin ist (gelegentlicher Kinobesuch, öffentlicher Personennahverkehr) und was nicht (Taxifahrten, wenn der Bus nicht gleich bereitsteht). Die große Herausforderung für Eltern mit Budgetlimits ist dann, die verständliche Frustration der Kinder zu kanalisieren – im besten Fall so, dass es die Kinder aktiviert, die Welt zu verändern, die kleine eigene und die große. Also irgendwas zwischen Sparen fürs eigene Reitpferd und Weltrevolution. Vor allem aber müssen Eltern eines tun, wenn sie ihre Kinder auf die eigenen Budgetlimits verweisen: das kleine Selbstbewusstsein stärken, das in einer auf Konsumoptionen fixierten Welt schnell zerrieben werden kann. (Wahrscheinlich müssen die Eltern da beim eigenen Selbstbewusstsein anfangen!)

Ein Besuch im Schwimmbad hat mich in dieser Hinsicht kürzlich sehr optimistisch gestimmt. Die Freundin war auch wieder dabei. Wie immer gab es Pommes am Kiosk. „Ich hab noch Durst“, sagte die beste Freundin. „Ich will so was.“ Sie zeigte auf eine Colaflasche. Noch bevor ich die Bestellung aufgeben konnte, stellte meine Mittlere ihre frisch aufgefüllte Wasserflasche auf den Tisch. „Hab ich grad vom Klo geholt.“ Irgendwie war ich da sehr stolz.